Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wie der Mythos von der Impfpflicht entstanden ist
Die Rekonstruktion einer Falschmeldung – und was tatsächlich Stand der Dinge ist
RAVENSBURG - Komplexe medizinische und juristische Sachverhalte auf der einen Seite, Missverständnisse und gezielte Falschmeldungen auf der anderen verstärken während der Corona-Pandemie Irritationen und Verunsicherung in der Bevölkerung. Es ist der Nährboden, dem Anfang Mai das Gerücht erwuchs, eine Impfpflicht gegen das neuartige Coronavirus sei bereits beschlossene Sache.
Auslöser war der Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes. Den Gesetzentwurf hatte das Bundeskabinett abgesegnet, es trat damit jedoch noch nicht in Kraft, schließlich war er noch nicht dem Bundestag zugeleitet worden. Und von Impfpflicht war in dem Text auch gar keine Rede. In der umstrittenen Passage zu Paragraph 28, Absatz 1, Satz 3 ging es in schwer verdaulichem juristischem Deutsch vielmehr darum, Personen von einschränkenden Maßnahmen auszunehmen, die bereits eine Immunität gegen Covid-19 vorweisen könnten.
Diese Immunität sollte durch eine sogenannte „Impf- oder Immunitätsdokumentation“belegt werden. Es war diese Idee einer Art „Immunitätsausweis“, aus dem Kritiker eine allgemeine Impfpflicht ableiteten. Dabei wurde übersehen, dass sich die Anmerkungen explizit auf die Sätze 1 und 2 des Impfschutzgesetzes bezogen und somit auf Schutzmaßnahmen für bereits infizierte Personen – oder Verdachtsfälle – und eben nicht auf die gesamte Bevölkerung. Mit diesen Schutzmaßnahmen soll vermieden werden, dass tatsächlich Infizierte oder möglicherweise Infizierte das Virus weiterverbreiten. Mit einer Immunitätsbestätigung hätte, so der Plan, eine betroffene Person Maßnahmen wie etwa die Quarantäne umgehen können.
Dennoch verbreitete sich die Interpretation einer allgemeinen Impfpflicht schnell, da sie eine vermeintliche Logik enthielt: Wie soll man immun werden, wenn man noch gar nicht infiziert war? Das gehe nur durch Impfung, hieß es. Damit war das Gerücht der Corona-Impfpflicht in der Welt. Doch auch wenn dieses prominente Gerücht auf aktuellen Corona-Demonstrationen als Klangverstärker für wütende Proteste dient, ist es nachweislich falsch. Allein die Behauptung einer bevorstehenden Impfpflicht gegen Corona wurde von der Tatsache kassiert, dass es noch gar keinen Impfstoff gibt.
Nur die optimistischsten Stimmen stellen den medizinisch vertretbaren Einsatz eines solchen Stoffes für das Frühjahr 2021 in Aussicht.
Die Behauptung, ein solches Gesetz sei zudem bereits verabschiedet worden, konnte mit Fakten schnell korrigiert werden. Mitunter wurde hier der Begriff „Bundeskabinett“wohl mit „Bundestag“gleichgesetzt, was für Verwirrung sorgte. Denn zunächst hätte der Bundestag über den Vorschlag des Bundeskabinetts debattieren müssen, ehe er es hätte verabschieden können. Im Anschluss hätte das Gesetz dann vom Bundesrat abgesegnet werden müssen.
Davon aber war der Vorschlag des Bundesgesundheitsministers weit entfernt. Wie weit, das zeigte der massive Widerstand quer durch alle
Parteien des Bundestages und auch durch die Bundesregierung selbst. Die SPD stand der Idee eines Immunitätsausweises von Beginn an äußerst kritisch gegenüber. Spahn selbst zog seine umstrittene Idee dann auch zurück. Sie war wegen ihrer ethischen wie datenschutzrechtlichen Angreifbarkeit schlichtweg im Bundestag nicht mehrheitsfähig. Nichts wurde hier also „hinter dem Rücken der Bürger“entschieden. Im Gegenteil: Die parlamentarische Absicherung hatte funktioniert.
Korrekt ist, dass gegenwärtig in Deutschland bereits eine Impfpflicht besteht. Diese gilt aber nicht für das Coronavirus, sondern ist Kern des Masernschutzgesetzes, das seit 1.
März 2020 als Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes in Kraft ist. In Paragraph 20, Absatz 6 ist dort geregelt, „dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen […] teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist“. Bei den Masern war das faktisch gegeben. Da Masern hochansteckend sind und bei Kleinkindern wie auch Erwachsenen zu schweren Komplikationen führen können, sah sich die Politik angesichts der schlechten Impfquote zum Handeln gezwungen. Das Wohl der Allgemeinheit stehe hier über dem Interesse
des Einzelnen, lautet das Argument mit Verweis auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Für die Eindämmung der CoronaPandemie sieht das nach gegenwärtigem Stand anders aus. Zwar gibt es prominente Befürworter einer Corona-Impfpflicht wie etwa CSU-Chef Markus Söder – doch in Berlin geht man dazu klar auf Distanz. So haben sich sowohl Kanzleramtschef Helge Braun als auch Bundesgesundheitsminister Spahn gegen eine CoronaImpfpflicht ausgesprochen. Wer sich nach Verfügbarkeit eines Impfstoffes nicht impfen lassen wolle, so Braun, der müsse eben „das Risiko einer Infektion selbst tragen".