Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Sicherer ohne Fahrer
Ehemalige Airbus-Techniker wollen autonomes Fahren mit Flugzeugtechnik voranbringen
MARKDORF - Christian Meyer sieht eine Revolution auf der Straße voraus. Das autonome Fahren, sagt er, wird nicht nur den Verkehr und das Straßenbild für immer verändern. Die ganze Art, wie Autos gedacht werden, ändere sich. Meyer denkt bereits jetzt an selbstfahrende Büros, und Autobesitzer, die nur noch auf der Rückbank sitzen – während das Auto sie intelligent und sicher ans Ziel bringt. „Es ist die nächste Evolutionsstufe in der Fortbewegung“, sagt Meyer, Geschäftsführer von Lake Fusion Technologies – einem Start-up im Bodenseekreis, das mit Lasertechnik und Erfahrung aus der Luftfahrt das autonome Fahren voranbringen will. Die sechs Gründer sind allesamt ehemalige Airbus-Mitarbeiter.
Seit November 2018 gibt es Lake Fusion Technologies (LFT). Hinter dem Firmennamen sieht das Start-up seine DNA. Lake stehe für den Firmensitz in Markdorf und das HighTech-Cluster Bodensee. Fusion sei eine Anspielung auf die Verknüpfung verschiedener Daten, die laut Meyer als Quelle für das autonome Fahren notwendig sind. LFT verbindet Kameras, Radare und Lidare – laserbetriebene Radare – um mit einem Testfahrzeug Daten zu sammeln. Technologies meint die Verbindung des Unternehmens aus Start-up-Charakter und Erfahrung aus der Luftfahrt.
Auf selbstfahrende Autos zu setzen, ist nicht neu. Bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren wurden an der Münchner Universität und an der US-amerikanischen Carnegie Mellon University an führerlosen Autos gebastelt. Was LFT jedoch laut Meyer bei der Weiterentwicklung dieser Technik unterscheidet, ist die Erfahrung und das Sicherheitsdenken aus der Luftfahrt.
Vor ihrem Schritt in die Selbstständigkeit haben die sechs Gründungsmitglieder von LFT laserbasierte Sicherheitstechnik für Helikopter bei Airbus entwickelt. Mithilfe von Lidaren, die bei schlechter Sicht durch Wolken und Nebel sehen können, arbeiteten sie an einem sicheren Autopiloten für Hubschrauber. „Dieses Wissen – und vor allem unsere Erfahrung – wollten wir für die Entwicklung vom autonomen Fahren von Autos nutzen“, sagt Meyer bei der Vorstellung seines Unternehmens.
Vor allem Algorithmiker, Systemund Softwareentwickler arbeiten bei LFT. Mithilfe von Lidaren entwickeln sie laserbasierte Umfeldmodelle im Straßenverkehr. Grundlage dafür sind Fahrdaten, die LFT mit einem Testfahrzeug, einem technisch aufgerüsteten VW-Passat, selbst sammelt. Auf dem Dach des Passats sind jeweils vier Kameras und Lidare, zwei Navigationssysteme sowie ein Radar verbaut und mit zwei
Computern verbunden. Auf diese Weise sammeln die Entwickler während der Fahrt zeitgleich unzählbare Datenmengen, aus denen komplexe Umfeldmodelle von Verkehrssituationen entstehen.
Der Passat fährt dabei nicht selbst autonom, sondern ist ein reines Testfahrzeug. Ziel der LFT-Entwickler ist es, während realistischer Fahrsituationen im Straßenverkehr – zu allen Tageszeiten und Wetterbedingungen – Daten zu sammeln. Die Produkte, die LFT mit diesen Daten entwickelt, sollen die Sicherheitstechnik von bereits verfügbaren Fahrassistenzsystemen verbessern und eines Tages das vollständig autonome Fahren so sicher machen wie das Fliegen.
Derzeit verkauft LFT vier Produkte: sicherheitsrelevante Softwareentwicklungen, das Referenzsystem, mit dem LFT die Rohdaten während der Testfahrten sammelt, einen beratenden Experten-Service sowie das ganzheitliche System zur Erfassung der Umfeldwahrnehmung. Laut Geschäftsführer Meyer ist die gesamte Autoindustrie an den LFT-Produkten interessiert. Von Autobauern wie VW, Audi, Mercedes und BMW über Zulieferer wie ZF und Continental bis hin zu Lidar-Herstellern und Forschungsprojekten – LFT ist laut Meyer mit allen im Gespräch und hat bereits erste Kunden.
In diesem Jahr, so Meyer, soll es richtig losgehen. Ende April sei ein Auftrag eines „renommierten deutschen Premium-Automobilherstellers“gewonnen worden, für den LFT ein Lidar-System entwickeln soll. Und Anfang des Monats habe der Rüstungskonzern Hensoldt LFT beauftragt, Systeme weiterzuentwickeln, die das Fliegen mit Hubschraubern unter schlechten Sichtverhältnissen und in komplexen Umgebungen wie Städten oder im Gebirge sicherer machen sollen.
Finanziert wird das Start-up bislang von einen US-amerikanischen Privatinvestor. Über den Namen des Geldgebers hält sich LFT bedeckt. Nur so viel sei gesagt: Es ist kein strategischer Investor, sondern jemand, der auf die Technik und das Investment setzt. Elf Mitarbeiter werden derzeit aus den USA finanziert. „In vier bis fünf Jahren wollen wir auf eigenen Beinen stehen“, sagt Meyer, der sich jüngst auch über eine Zuwendung im „sechsstelligen EuroBereich“vom Bundeswirtschaftsministerium aus dem Innovationsprogramm Mittelstand freuen konnte. Das Geld soll in die Lidar-Produktentwicklung fließen. Für dieses Jahr peilt Meyer einen Umsatz von vier Millionen Euro und eine Verdopplung der Mitarbeiterzahl an.
„Der Markt und das Potenzial für selbstfahrende Autos ist derzeit noch gar nicht abschätzbar“, sagt Meyer. Er vergleicht die evolutionäre Entwicklung der Mobilität durch das autonome Fahren mit der Entwicklung von Mobiltelefonen durch das Smartphone. „Damals konnte sich noch niemand vorstellen, wie viele Veränderungen das Smartphone mit sich bringt“, sagt Meyer. An die ursprüngliche Funktion mobil zu telefonieren denke heute niemand mehr beim Kauf eines neuen Smartphones. Heute dienten die Alleskönner als mobiles Kino, Reiseplaner, Zeitung oder Online-Banking-Tool. Kaum ein Bereich des privaten Lebens ist vom Smartphone unbeeinflusst geblieben.
Ähnlich radikal verändere das autonome Fahren den Individualverkehr. „Wenn Autos autonom fahren, sind es strenggenommen keine Autos mehr“, sagt Meyer. Die selbstfahrenden Büros und Fahrzeuge dienten dann in erster Linie der sicheren und zeitsparenden Fortbewegung. Zudem würde die Zahl der Verkehrstoten durch autonomes Fahren laut Meyer statistisch auf null sinken. So, wie es beim Flugverkehr – gemessen an der Anzahl der täglich beförderten Passagiere – bereits der Fall ist.
„In der Flugzeugbranche ist es vollkommen normal, dass die Sicherheit über allem steht. Jede Technik, die für Flugzeuge entwickelt wird, hat das Ziel, Schäden und Unfälle komplett zu vermeiden.“Die Automobilindustrie dagegen habe bislang immer versucht, die Schäden im Falle eines Unfalls zu verringern – etwa durch Knautschzonen oder Airbags. Autonome Autos, da ist sich Meyer sicher, würden durch intelligente Steuerung von Geschwindigkeit und Fahrabstand Unfälle frühzeitig vermeiden.