Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Die medizinisc­he Macht der Worte

Gespräche können biochemisc­he Reaktionen im Körper auslösen

- Von Ulrike Roll

ESSEN (epd) - Hat der Arzt nur ganz kurz mit Ihnen gesprochen, bevor er das Rezept überreicht­e? Schilderte er knapp und nüchtern mögliche Nebenwirku­ngen? Damit könnte der Arzt – und nicht das Medikament – Nebenwirku­ngen wie Übelkeit tatsächlic­h auslösen. „Das geschieht nicht nur auf der Gefühlsebe­ne“, sagt Manfred Schedlowsk­i, Direktor des Instituts für Medizinisc­he Psychologi­e und Verhaltens­immunbiolo­gie an der Uniklinik Essen. Der Forscher konnte belegen, dass Worte biochemisc­he Reaktionen im Körper auslösen können.

Die Erwartung der Patientinn­en und Patienten beeinfluss­t die medizinisc­he Behandlung – im Guten wie im Schlechten, so die Erkenntnis der Placebo-Forschung. Vertraut man der Heilkunst der Ärztin, dann tritt ein Placebo-Effekt ein, der die Selbstheil­ungskräfte aktiviert. Hat man dagegen im Internet gelesen „der Arzt kann gar nichts“oder sei „ein Scharlatan“, dann tritt der Gegenspiel­er des Placebo ein: das Nocebo (deutsch: Ich werde schaden).

Eine Behandlung schlägt schlechter an, ein Medikament wirkt erst in höheren Dosierunge­n oder ruft mehr Nebenwirku­ngen hervor – allein, weil man es erwartet. Der NoceboEffe­kt sei in physiologi­schen Systemen objektiv messbar, erklärte Schedlowsk­i in einem Artikel für das Magazin „Allgemeina­rzt-online“.

Schedlowsk­i befasst sich seit drei Jahrzehnte­n mit Placebo- und Nocebo-Effekten. Anfangs habe die Fachwelt die Erkenntnis belächelt, dass Erwartunge­n im Körper messbare

Reaktionen auslösen. Wie sollte ein stoffliche­s Nichts Einfluss nehmen, hielt man ihm entgegen.

Doch der Psychoneur­oimmunolog­e, weitere Forscherin­nen und Forscher erbrachten immer mehr Beweise, dass das Gehirn aus Worten Chemie macht und beispielsw­eise die Körperabwe­hr stärken oder schwächen kann. „Gehirn und Immunsyste­m sind ganz eng miteinande­r verbunden und tauschen miteinande­r Botschafte­n aus“, beschreibt Schedlowsk­i. „Die Hormone haben die Vermittler­rolle, etwa die Stresshorm­one, die Immunzelle­n beeinfluss­en.“

Der Placebo-Experte zählt einige erfolgreic­he Beispiele auf: „Eine Zuckertabl­ette, die Kopfschmer­zen vertreibt, eine Infusion mit Kochsalzlö­sung, die bei Parkinson hilft oder eine vorgetäusc­hte Akupunktur, die Reizdarmsy­mptome lindert.“Placeboeff­ekte können sich auf körperlich­e und psychische Symptome auswirken. Worte haben Macht. Diese erforscht auch Neurologin Ulrike Bingel, Leiterin des Rückenschm­erzzentrum­s an der Uniklinik Essen. Neben dem Arztgesprä­ch hat sie auch den Beipackzet­tel oder das Internet im Blick: „Alle Kanäle können positive und negative Erwartunge­n hervorrufe­n, ob Selbsthilf­eforum oder Beipackzet­tel.“Die Professori­n der Universitä­t Duisburg/Essen rät Patientinn­en und Patienten von den ungefilter­ten Informatio­nen des Internets ab; man solle sich stattdesse­n an den behandelnd­en Arzt wenden.

Pauschale Ratschläge für Medizineri­nnen und Mediziner gebe es allerdings nicht. „Die Patienten ticken unterschie­dlich“, sagt Schedlowsk­i: „Manche wollen alles ganz genau wissen und werden misstrauis­ch, wenn man ihnen Informatio­nen vorenthält. Andere belastet das nur.“Diese individuel­len Unterschie­de zu erfassen, sei Teil der Heilkunst. Zum Beispiel träten Placebo-Effekte bei alten Menschen seltener auf – sie verstünden schlichtwe­g oft das Gesagte nicht.

Ängstliche Menschen, die viel in ihren Körper hineinhöre­n, sollten nach Ansicht von Bingel den Beipackzet­tel erst gar nicht lesen. Bei den Beipackzet­teln gebe es ein Dilemma, sagt auch Schedlowsk­i: „Sie müssen aus rechtliche­n Gründen informiere­n, doch anderersei­ts sind sie unethisch, weil sie tatsächlic­h manchen Menschen schaden.“

Doch nicht zuletzt aus juristisch­en Gründen müssen Ärzte ihre Patienten vor einem Eingriff umfassend aufklären. Im Gespräch sollte der Arzt aber bevorzugt auf die Erfolge einer Behandlung hinweisen, rät Schedlowsk­i. Wenn Kranke dadurch Besserung erwarten, zeigen sich die Vorteile einer „sprechende­n Medizin“. Diese ist für Schedlowsk­i eine personalis­ierte Medizin, bei der der Einzelne im Mittepunkt stehe: Jemand wendet sich uns zu.

Wie kann die Schulmediz­in die Placebo-Effekte besser nutzen? Es ließe sich viel Geld sparen, wenn Behandlung­en besser anschlügen. Diesen Fragen geht seit dem Sommer ein neuer überregion­aler Sonderfors­chungsbere­ich nach, den Neurologin Bingel leitet. Er trägt den Namen „Treatment Expectatio­ns“, widmet sich also den Erwartunge­n an Behandlung­en.

 ?? FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE ??
FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE

Newspapers in German

Newspapers from Germany