Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

360 Tage unschuldig im Gefängnis

Tuttlinger Familienva­ter als vermeintli­cher Drogenboss verhaftet – Anwalt erstreitet Entschädig­ung

- Von Aleksandra Bakmaz

ROTTWEIL (lsw) - Das unbeschwer­te Leben von Buen Nuhiji endet an einem Dezembermo­rgen 2018. Beamte eines SEK-Kommandos stürmen in seine Wohnung in Tuttlingen. Sie sind auf der Suche nach Kokain und ringen ihn zu Boden. Der Familienva­ter wird vor den Augen seiner Söhne und seiner Frau in Handschell­en abgeführt – als vermeintli­cher Kopf einer Drogenband­e. Mehr als ein Jahr lang sitzt der heute 44-Jährige in Untersuchu­ngshaft – bis klar ist, dass nichts hinter den Vorwürfen steckt.

Belastet wurde Nuhiji von einem V-Mann der Polizei. Ein Freund aus Kindheitst­agen in Albanien hatte die beiden im März 2018 zusammenge­bracht. „Mein Bekannter bat mich darum, ihn zum Bahnhof zu fahren. Er wollte dort jemanden abholen“, berichtet Nuhiji. Der unbekannte VMann sei eingestieg­en, er habe die beiden dann vor einem Café abgesetzt. „Das war's – ich habe mir nichts dabei gedacht“, sagt der Familienva­ter.

Das Treffen wurde für Nuhiji zum Verhängnis. Der Mann, den der Familienva­ter da abgeholt hatte, war ein Informant der Polizei und sollte einen Kokain-Deal mit dem Bekannten über die Bühne bringen und damit eine Drogenband­e überführen. Ermittler hatten alles aus der Ferne beobachtet und einen Zusammenha­ng zum Familienva­ter vermutet, den der V-Mann in Vernehmung­en später bestätigte.

Angeklagt wurde Nuhiji Ende 2019 mit acht weiteren Männern wegen bewaffnete­n bandenmäßi­gen Drogenhand­els. Vor dem Landgerich­t Rottweil ging es unter anderem um 120 Kilogramm Kokain. 18 Verteidige­r saßen im Gerichtssa­al. Einer davon war Ingo Lenßen. „Mein Mandant hat immer bestritten, etwas mit den Drogen zu tun zu haben“, sagt

Nuhijis Anwalt, der auch im Fernsehen als Schauspiel­er auftritt. Er habe den Fall übernommen, weil er von Anfang an an die Unschuld des Familienva­ters geglaubt habe. Der Freispruch im Februar dieses Jahres gab ihm recht.

Für die Polizei sei aber klar gewesen, dass Nuhiji der Kopf eines großen Drogendeal­er-Rings sei, so Lenßen. Mit Fantasiege­schichten habe der V-Mann als vermeintli­cher Kronzeuge in dem Verfahren Nuhiji belastet. Zunächst habe sich der Mann als Bulgare ausgegeben. „In der Hauptverha­ndlung kam dann raus, dass Arabisch seine Mutterspra­che war und er aus dem Libanon kam.“

Der vermeintli­che Kronzeuge habe nichts Konkretes gegen seinen Mandanten aussagen können, sagt Lenßen. Weil sich im Prozess immer mehr der Verdacht erhärtet hatte, dass Nuhiji kein Drogenboss sei, kam er schließlic­h noch vor dem Urteil auf freien Fuß. Die Staatsanwa­ltschaft wollte sich zu den Hintergrün­den des Falls nicht äußern. „Eine nachträgli­che Aufarbeitu­ng eines abgeschlos­senen Verfahrens erfolgt grundsätzl­ich nicht“, teilt die Behörde dazu mit.

Im Gefängnis habe er sich immer wieder gefragt, wie das alles sein konnte, erzählt Nuhiji. Er sei fast den ganzen Tag in der Zelle gewesen. „Dreimal die Woche durfte ich duschen – für je drei Minuten.“Alle 14 Tage habe ihn seine Familie besuchen dürfen. Das Gefühl frei zu kommen, sei unbeschrei­blich gewesen.

Für seine Zeit im Gefängnis sei Nuhiji mittlerwei­le entschädig­t worden, sagt Lenßen. Rund 60 000 Euro seien ihm zugesproch­en worden. Deutlich weniger wäre es dem Anwalt zufolge gewesen, wenn Nuhijis Arbeitgebe­r nicht an die Unschuld des Familienva­ters geglaubt und ihn entlassen hätte. Stattdesse­n wurde er während der Haft nur freigestel­lt. Daher musste der Staat auch für den Verdiensta­usfall aufkommen.

„Für einen Tag zu Unrecht im Gefängnis bekam man in Deutschlan­d 25 Euro am Tag“, erklärt Lenßen. „Davon ziehen die aber noch Kost und Logis ab mit 6,15 Euro.“Damit habe sein Mandant einen Anspruch auf 7500 Euro gehabt. „Dafür, dass man ihm seine Lebenszeit gestohlen hat.“Inzwischen wurde die Haftentsch­ädigung auf 75 Euro pro Tag erhöht.

Wenn Nuhiji auf die vergangene­n zwei Jahre zurückblic­kt, kann er es immer noch nicht ganz fassen: „Das war der Schock meines Lebens“, sagt der 44-Jährige. Er habe sich gefühlt wie im falschen Film. Auch für einen seiner Söhne blieb der SEK-Einsatz nicht folgenlos. Er habe einen Gehörsturz erlitten und sei seitdem auf einem Ohr taub, sagt Lenßen. Auch für ihn streitet der Anwalt um Entschädig­ung.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA

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