Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Spezialist der Zeit
Ob der Zeiger eine Stunde vor- oder eine Stunde zurückgedreht wird, lässt den Zeitforscher Karlheinz Geißler kalt – Er orientiert sich an seinem eigenen Zeitempfinden
Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir immer mehr eigene Zeit organisieren müssen – aktuell auch wegen Corona. Schulen machen zu, Menschen sind im Homeoffice und müssen ihre Zeit dort selber verwalten. Es gibt eine ganze Kette von Restriktionen. Jetzt greift an zwei Tagen im Jahr der Staat, in diesem Fall die EU, ein und organisiert die Zeit. Dies findet mancher als störend und lästig, zumal im Frühjahr, wenn man wegen der Uhrumstellung eine Stunde früher aufstehen sollte. Solche Menschen fragen sich, wie der Staat dazu kommt, ihnen ins Leben zu pfuschen.
Die EU hat eine Umfrage zur Uhrumstellung initiiert. Von rund 500 Millionen EU-Bürgern nahm weniger als ein Prozent teil. Die große Mehrheit davon wollte das Ende der Umstellung. Wie schätzen Sie die Umfrage ein?
EU-weit gesehen wird die Umstellung mit Blick auf die geringe Teilnehmerzahl bei der Umfrage offenbar eher als Randproblem angesehen – oder als überhaupt kein Problem. In Deutschland, aus dem immerhin drei Viertel der teilnehmenden Bürger kamen, mag dies etwas anders sein. Aber auch bei uns ist die Zahl der Abstimmungsteilnehmer
Der 76-jährige Karlheinz Geißler ist emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik an der Bundeswehr-Universität in München und Zeitforscher. Schon früh haben ihn Fragen zum Umgang mit der Zeit beschäftigt. So lebt er bereits seit über 30 Jahren ohne persönliche Uhr. Geißler ist unter anderem Leiter des Projektes „Ökologie der Zeit“der Evangelischen Akademie Tutzing und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Zudem hat er „timesandmore“ins Leben gerufen, ein Institut für Zeitberatung.
Was meinen Sie? Sollte die Umstellung besser unterbleiben?
Grundsätzlich entspricht die Normalzeit, also die sogenannte Winterzeit, eher unserem natürlichen Rhythmus. Für eine Umstellung gibt es zumindest keinen tieferen wirtschaftlichen Grund mehr. Der ursprüngliche Gedanke der Energieersparnis hat sich erledigt. Wenn es sommers länger hell ist, profitiert wohl gerade noch die Gastronomie, weil die Menschen länger sitzen bleiben.
Wie schätzen Sie des Bürgers Wille ein?
Umfragen helfen bei diesem Thema nicht wirklich weiter – siehe die Befragung der EU. Auch innerhalb Deutschlands haben solche Umfragen
Die Uhr scheint also für das Leben etwas Unnatürliches zu sein, oder?
Die Uhr dient dazu, um Menschen zu organisieren. In ihrer mechanischen Form hat sie sich vor rund 600 Jahren verbreitet. Davor herrschte für die Menschen Gott über die Zeit. Nun konnte der Mensch über sie herrschen. Die Uhr fing Schritt für Schritt an, vielerorts den Alltag zu dominieren. Waren die Menschen zuvor quasi Opfer der Zeit, wurden sie nun Täter der Zeit.
Aber dies galt ja erst einmal für die Städte ...
Ja. Auf dem Land spielte die Uhr lange Zeit keine Rolle. Noch vor wenigen Generationen waren 90 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Sie haben sich nach der Natur gerichtet. Sie war ausschlaggebend, nicht die Uhr. Sie hatte keine Relevanz. Zeit war identisch mit dem Wetter. Deshalb ist in allen romanischen Sprachen Zeit und Wetter noch der gleiche Begriff. Das Wetter ist aber durch die Uhr aus der Zeit herausgenommen worden.
Wie Berichten zu entnehmen ist, tragen Sie selbst auch keine Uhr. Wie funktioniert dies?
Es funktioniert gut. Gegenwärtig beim Arbeiten im Homeoffice muss man sowieso nicht immer auf die Uhr schauen. Wenn ich Termine ausmache, vereinbare ich einen Zeitraum, beispielsweise vormittags. Zudem habe ich keinen Vorgesetzten, der sagt, wann ich wo zu sein habe. Ich gestalte meinen Tag praktisch nach dem Vorbild eines Emmentalers. Es gibt eine Form, die aber viele Löcher hat. Diese setze ich mit Zeiträumen gleich. Sie lass ich mir nicht wegorganisieren, sondern lass darin die Zeit auf mich zukommen. Wenn ich aber schon keine Uhr trage, heißt dies nicht, dass ich ohne Uhr lebe. Es hat ja überall welche, am Herd, an jedem technischen Gerät.
Am Anfang der gegenwärtigen Uhrumstellung hat die Ölkrise in den 1970er-Jahren gestanden. In Europa wuchs der Druck, eine Sommerzeit einzuführen. Dahinter stand die Überzeugung, durch eine bessere Nutzung des Tageslichts Energie sparen zu können. Weil Frankreich und andere europäische Staaten vorgeprescht waren, wurde am 6. April 1980 auch in der Bundesrepublik und der DDR die Sommerzeit eingeführt.
Über Sinn und Unsinn dieser Uhrumstellung ist seitdem immer wieder gestritten worden. Als einschneidend in dieser Auseinandersetzung hat sich 2018 eine EU-weite Online-Umfrage erwiesen. Es gab 4,6 Millionen Rückmeldungen. In 84 Prozent von ihnen wurde das Ende der Umstellung verlangt. Sie gehöre abgeschafft, verkündete darauf der damalige Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Er ergänzte, dass die meisten Teilnehmer die Sommerzeit auch im Winter wollten.
Im März 2019 votierte das Europaparlament mit deutlicher Mehrheit dafür, die Umstellung 2021 abzuschaffen. Doch nun liegt der Ball bei den Regierungen, die die Frage klären müssen, ob sie die dauerhafte Sommer- oder Winterzeit wollen. Am Ende müssten die Mitgliedsstaaten entscheiden. Doch dazu wird es so bald nicht kommen. Von EU-Diplomaten hieß es diese Woche, dass das Thema während der laufenden deutschen Ratspräsidentschaft nicht mehr groß diskutiert werde. Es gebe sehr viele andere Themen, die drängender seien als die Zeitumstellung.
Die deutsche Regierung hat sich nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums noch nicht entschieden, ob sie eine dauerhafte Sommer- oder Winterzeit bevorzugt. „Aus Sicht der Bundesregierung ist es wichtig, Zeitinseln zu verhindern und einen harmonisierten Binnenmarkt zu gewährleisten“, teilt das Ministerium mit. (sz)
Ihr Einfluss sollte gemindert werden. Als Beispiel verweise ich auf die Schulen. Warum dort für die Schüler keine Gleitzeit einführen? Viele Betriebe kennen sie. Durch Gleitzeit könnten die Kinder in die Schule kommen, wenn sie ausgeschlafen und lernfähig sind. Die Kernzeit des Unterrichts könnte etwa um neun Uhr anfangen. Dann müssen alle da sein. Zuvor arbeiten die Lehrer nur mit denen, die bereits eingetroffen sind. Dies ließe sich problemlos organisieren.
Was raten Sie Menschen, die nicht ständig nach der Uhr leben wollen?
Man kann wenigstens am Wochenende die Uhr ablegen. Generell gilt: Wenn ich von der Uhrzeit zur Naturzeit komme und so einen Rhythmus habe, der von meiner inneren Natur ausgeht, ist die Chance am größten, zufrieden zu sein.
Das jüngste Buch von Karlheinz Geißler zum Thema Zeit ist 2019 erschienen: Die Uhr kann gehen – Das Ende der Gehorsamkeitskultur, Hirzelverlag, 195 Seiten.
Ein Erklärvideo und eine Umfrage zur Zeitumstellung gibt es online auf www.schwaebische.de/ zeitumstellung