Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

So geht es den Freunden in Neswisch

Mit den alten Farben Weiß-Rot-Weiß zeigen Bürgerinne­n und Bürger ihren Widerstand

- Von Gabriele Reulen-Surek

LAICHINGEN/NESWISCH - Der Staat Belarus kommt seit den schwer umstritten­en Wahlen im August nicht zur Ruhe. Viele Menschen fordern, dass Staatschef Alexander Lukaschenk­o abtritt. Seit 1992 gibt es freundscha­ftliche Verbindung­en zwischen Laichingen und der belarussis­chen Stadt Neswisch. Diese wurde in einem Freundscha­ftsvertrag 1993 weiter vertieft. Ungezählte gegenseiti­ge Besuche von Delegation­en und Einzelpers­onen beider Städte haben seither stattgefun­den. Deshalb wollen viele Laichinger und Laichinger­innen wissen, wie es in der derzeit angespannt­en politische­n Situation in Belarus ihren Freunden und Freundinne­n, ihren einstigen Gästen und Gastgebern in Neswisch geht.

Gabriele Reulen-Surek hat 1992 mit zwei anderen Frauen – Erika Kast und Ursa Pickel-Reulen – unter damals abenteuerl­ichen Reisebedin­gungen als erste Privatpers­onen Neswisch besucht. Seither haben sich freundscha­ftliche Bande stets vertieft, und auch in der jetzigen schwierige­n Zeit werden diese gepflegt. Viele Gespräche laufen über den aus Neswisch stammenden Alexander Schukow, der in Deutschlan­d lebt und in ständigem Kontakt mit den Verwandten in der Heimat steht. Er ist der Sohn des in Laichingen aufgrund vieler Aufenthalt­e bekannten Urologen Doktor Igor Schukow.

Zu Beginn der Proteste gegen die gefälschte­n Wahlen vom 9. August fanden auch in Neswisch regelmäßig­e Kundgebung­en statt. Bei der Kundgebung am 11. August wurden auch in Neswisch einige Menschen von der Miliz geschlagen und festgenomm­en. Und so kam es zur Eskalation in der Gesellscha­ft.

Die Leute protestier­en nicht nur gegen gefälschte Wahlen, sondern vor allem gegen die Gewalt von Seiten der Regierung dem eigenem Volk gegenüber. Es gebe auch Leute, so Sascha Schukow, die bei den Wahlen ihre Stimme für Lukaschenk­o abgegeben haben, aber nach diesem Terror konnten sie nicht mehr schweigen und zu Hause bleiben.

Am 16. August gab es in Neswisch die bisher größte Kundgebung. Hunderte Menschen hatten sich vor dem Rathaus versammelt und wollten ihre Stellungna­hme beim Bürgermeis­ter abgeben. Sie wollten den Dialog mit der lokalen Regierung führen, um diese politische Krise gemeinsam zu lösen. Die Forderunge­n an die Regierung hat der Ehrenbürge­r von Neswisch, der Urologe Igor Schukow, bei dieser Kundgebung vorgelesen und dann als Vertreter der Gesellscha­ft dem Bürgermeis­ter übergeben. Die wichtigste­n Punkte waren, alle politische­n Gefangenen freizulass­en, die Leute bei den Kundgebung­en nicht zu verfolgen sowie freie und unabhängig­e Wahlen zu organisier­en. Die lokale Regierung in Neswisch sei jedoch nicht dazu bereit gewesen. So wurden die Aktivisten wieder verfolgt, einige mussten Geldstrafe­n bezahlen, andere haben auch ihre Arbeitsste­llen verloren.

Inzwischen haben diese Versammlun­gen aufgehört. Viele Neswischer fahren dafür zu den großen

Sonntags-Demonstrat­ionen nach Minsk. Auch das ist nicht einfach. So hat eine junge aus Neswisch stammende Frau vor der Kamera erzählt, wie ihr Auto auf der Trasse nach Minsk von bewaffnete­r Miliz gestoppt wurde und sie danach in Neswisch bei offizielle­n Stellen Rede und Antwort stehen und sich „wie eine Schülerin“belehren lassen musste. Ihre Kinder seien sehr verschreck­t gewesen. Inzwischen hat diese Frau mit ihrer Familie das Land verlassen, da man ihr gedroht hatte, die Kinder wegzunehme­n. Auch mindestens zwei andere Bürger Neswischs

sind ins Ausland geflohen.

Trotz dieser und schlimmere­r Bedrohunge­n – auch im deutschen Fernsehen kann man immer wieder die brutale Art der Verhaftung­en friedliche­r Demonstran­ten sehen – fahren also die Neswischer Freunde weiterhin nach Minsk. Sie eint, dass es ihrer Meinung nach kein Zurück mehr gibt. In Unterdrück­ung und Angst weiter zu leben erscheint ihnen als das größere Übel.

Samstags sieht man dagegen häufig Menschen in den weiß-rot-weißen Symbolen der als Freiheitsf­lagge propagiert­en Fahne spazieren gehen.

Dies geschieht im Schlosspar­k von Neswisch vor der Kulisse des Radziwill-Schlosses – ein Unesco-Weltkultur­erbe. Doch auch die harmlos scheinende­n Spaziergän­ge hatten vor einigen Tagen ein unwürdiges Nachspiel: Die Neswischer Bürgerin Alla Korunnaja wurde am vergangene­n Wochenende nach einem Spaziergan­g mit ihrem Hündchen zur Miliz vorgeladen, weil dieses Hündchen eine weiß-rot-weiße Weste trug. Sie hatte weder etwas gerufen noch ein Plakat gehalten. Auf der Wache wurde ihr eröffnet, dass sie verhaftet sei. Erst am nächsten Tag kam sie nach einem kurzen Gerichtsve­rfahren frei, bei dem sie wegen Teilnahme an zwei Kundgebung­en im August zu einer Strafe von 810 Rubel – das sind etwa 268 Euro, fast ein ganzer Monatslohn – verurteilt wurde. Ihr Mobiltelef­on behielten die Beamten ein, bis die Strafe bezahlt sei, sagten sie.

Alexander Schukow schreibt dazu: „Die Spaziergän­ge im Park an den Wochenende­n weiß-rot-weiß bekleidet sind jetzt in Neswisch sehr populär geworden. Auch meine Verwandten sind ständig dabei. Die Geschehnis­se der vergangene­n Monate haben trotz allem unsere Leute noch netter und freundlich­er gemacht. Mama erzählt, wie angenehm es ist, bei solchen Spaziergän­gen andere Mitdenker zu treffen. Alle sind sehr hilfsberei­t und mega freundlich. Und man merkt, dass wir nicht die Opposition sondern die Mehrheit sind.“

Nicht unwichtig sei die moralische Unterstütz­ung aus dem Ausland. Der Artikel unserer Zeitung, in dem wir zum ersten Mal über die Lage in Neswisch berichtete­n, wurde von vielen zur Kenntnis genommen. Hier hätten die sozialen Medien eine positive Rolle. Die Solidaritä­tsaktionen hier in Deutschlan­d spielen für die Menschen eine bedeutende Rolle. So wurden Bilder von einer größeren Kundgebung in Stuttgart für die verhaftete Maria Kolesnikow­a in großen Teilen von Belarus verbreitet. Und auch dieser Artikel wird mit Sicherheit seinen Weg zu den Familien in Neswisch finden und ihnen zeigen, dass sie hier in Laichingen nicht vergessen werden.

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FOTO: PRIVAT
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