Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Vom Kampf mit dem Sprechen

Stottern muss nicht in die Isolation führen – Ein junger Stotternde­r aus Mannheim sucht die Öffentlich­keit und hat Erfolg

- Von Julia Giertz

Wenn Sebastian Koch mit Ginger spricht, tut er dies fehlerfrei und flüssig – von Problemen keine Spur. Ginger ist die Katze des 28-Jährigen. Wenn er aber mit Menschen redet, ist das ganz anders: Dann stellt sich das ungewollte Verharren auf einem Buchstaben, das Wiederhole­n von Wörtern und das Dehnen von Vokalen ein. Es macht den Eindruck, als müsse sich Koch die Sätze schwer abringen. Koch ist seit seiner Kindheit Stotternde­r, einer von 800 000 in Deutschlan­d.

Nach erfolglose­n Therapien hat der Kulturreda­kteur beim „Mannheimer Morgen“die Perspektiv­e einer Heilung ad acta gelegt und geht jetzt offensiv mit seiner Einschränk­ung um. Dazu lädt er für seinen „Ppppodcast“Gäste zum „Mannheimer Morgen“, mit denen er über ihre Erfahrunge­n als Stotternde­r oder als Therapeut spricht. Gerade diese Kommunikat­ionsform mit spontaner Konversati­on ist für Stotternde schwer zu meistern.

Warum wirken vierbeinig­e Freunde – neben Katzen auch Hunde – auf Stotterer so entspannen­d? Koch meint: „Sie haben – anders als die Menschen – keine Erwartunge­n und zeigen keine Reaktionen.“Auch im Umgang mit Babys zeigt sich die Störung oft nicht. Kleine Kinder und Tiere können nicht nachäffen, sich nicht lustig machen oder einfach Redebeiträ­ge von Stotternde­n ignorieren. Auch das Singen funktionie­rt einwandfre­i. Grund: Dafür werden andere Gehirnarea­le gebraucht als beim Sprechen.

Schwierigk­eiten haben Stotternde besonders in der Schule. So erlebte auch Koch in der sechsten Klasse, wie ihn ein Mitschüler nachäffte. Nach einem Gespräch mit Kochs Mutter ließ er davon ab. „Ich hatte extrem viel Glück“, sagt der Journalist.

Der Göttinger Neurologe Martin Sommer, Vorsitzend­er der Bundesvere­inigung Stottern & Selbsthilf­e, erinnert sich dagegen an schlimme Erlebnisse auf dem Schulhof. „Meist hören die Probleme nach der Schule im Berufslebe­n auf“, sagt Koch, der nach dem Volontaria­t beim „Mannheimer Morgen“dort auch übernommen wurde.

Das Stottern beruht auf einer Schwäche der Faserbahne­n in der linken Gehirnhälf­te, die die sprechrele­vanten Zellen miteinande­r verbinden. „Die Verdrahtun­g ist nicht so gut“, erklärt Sommer, der Oberarzt an der Uni-Klinik Göttingen ist. Das Phänomen ist bis zu 80 Prozent genetisch bedingt. Auch bei Koch findet sich ein stotternde­r Verwandter – sein früh verstorben­er Vater. Die restlichen Anteile liegen noch im Dunkeln. Klar ist nur, dass sie nicht auf frühkindli­che Erfahrunge­n wie Spracherzi­ehung, familiäre Probleme

oder Scheidunge­n der Eltern zurückzufü­hren sind. Das haben Zwillingss­tudien ergeben.

Kochs Chef, Chefredakt­eur Karsten Kammholz, unterstütz­t das Projekt seines jungen Kollegen von ganzem Herzen, hat er im Kindesalte­r doch auch gestottert. Bei ihm kam es aber zu einer Spontanhei­lung. Etwa fünf Prozent aller Kinder stottern, aber nur ein Prozent tut das noch im Erwachsene­nalter. Diese Zahl könnte weiter reduziert werden, wenn Eltern rascher reagieren würden, betont Mediziner Sommer. „Spätestens sechs bis zwölf Monate nach Auftreten der Redeflusss­törung sollte eine Behandlung erfolgen.“

Wie die Spontanhei­lung genau vor sich geht und warum sie bei Mädchen häufiger vorkommt als bei Jungen, ist ein Rätsel. Ebenso unklar ist, warum mehr Jungen und Männer als Mädchen und Frauen stottern: Im Kindesalte­r kommen auf ein stotternde­s Mädchen zwei Jungs; nach der Pubertät beträgt das Verhältnis sogar vier zu eins. „Das ist unsere Gretchenfr­age“, sagt Sommer.

Stottern ist im Erwachsene­nalter nicht mehr heilbar. Aber es gibt zwei Therapien, um es einzudämme­n. Eine zielt auf einen anderen Sprechmodu­s

(Fluency Shaping) ab, bei dem die Anfangssil­ben bewusst langsam und sanft gesprochen werden. Die neue Sprechweis­e wird im Alltag trainiert und wird bis zu einem Jahr danach überprüft. Die andere Therapie betrifft nicht den Redefluss selbst, sondern setzt in dem Augenblick an, in dem der Stotternde hängen bleibt. Dabei werden Praktiken gelehrt, wie man aus der Blockade rasch wieder herauskomm­t, etwa durch das Wiederhole­n des Wortes.

Koch hat eine Handvoll Therapien – auch einen Intensivku­rs – hinter sich, ohne Verbesseru­ngen erreicht zu haben. Trotz seines mutigen Podcasts setzt er in manchen Situatione­n auf Vermeidung. „Lieber gehe ich im Supermarkt x-mal durch die Gänge, um etwas bestimmtes zu finden, anstatt zu fragen.“

Sommer beobachtet bei Stotterern eine gewisse Selbststig­matisierun­g. Es gelte, dass Sprechen zu trainieren und Herausford­erungen zu suchen, anstatt als Schweiger durchs Leben zu gehen. Von seiner Umwelt verlangt Sommer – ebenso wie Koch – nur eines: „Bitte nicht Sätze weiterführ­en, Stotternde ausreden lassen – und sich einfach Zeit für sie nehmen.“

 ?? FOTO: UWE ANSPACH/DPA ??
FOTO: UWE ANSPACH/DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany