Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Junge Menschen in Gefahr
Die zunehmende Gewalt in Kolumbien trifft vermehrt Jugendliche
BERLIN/BOGOTÁ (epd) - Eine neue Gewaltwelle erschüttert Kolumbien, vier Jahre nach dem Abkommen zwischen Regierung und Guerilla. Die Versäumnisse des Friedensprozesses und die ungeklärte Landfrage heizen den Konflikt an.
Umgeworfene Plastikstühle, leere Cola-Dosen und eine blutverschmierte Mütze. Der Student Sebastían Quintero war an einem Samstagabend im August zum Grillen bei Freunden eingeladen. Auf einmal stürmten vermummte Männer das Grundstück in Samaniego, einer Gemeinde der Provinz Nariño in Zentralkolumbien, und schossen wahllos auf die Gruppe. Acht junge Leute wurden getötet.
Wer die Mörder waren und warum sie ausgerechnet die Studenten erschossen haben, ist völlig unklar. Sein Sohn habe studiert und in seiner Freizeit Fußball gespielt, erzählte Sebastiáns Vater, Jesús Quintero, kolumbianischen Medien. Er sei niemals in etwas Kriminelles verwickelt gewesen. „Der Frieden war unser Traum, doch es hat sich nichts geändert.“
Vier Jahre nach Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Regierung und Farc-Guerilla, der fünf Jahrzehnte blutigen Konflikts beenden sollte, wird Kolumbien von einer neuen Gewaltwelle erschüttert. Nach Angaben des Institutes für Entwicklung und Frieden (Indepaz) gab es in diesem Jahr bereits 65 Massaker, bei denen insgesamt 260 Menschen getötet wurden. Oft waren die Opfer Jugendliche, aber auch Kinder sowie Aktivistinnen und Aktivisten. Damit ist dieses Jahr das gewalttätigste seit 2013.
Die Massaker geschahen abgelegen in den Bergen oder in ehemaligen Kampfgebieten der Farc, so wie Nariño. Der Staat ist in diesen Regionen seit Langem weitgehend abwesend. Inzwischen haben paramilitärische Banden im Auftrag mexikanischer Kartelle die Kontrolle übernommen.
„Es gibt eine Zuspitzung der Situation in der Corona-Krise“, sagt Stefan Peters, Professor am DeutschKolumbianischen Friedensinstitut Capaz. „Es gab Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen, hauptsächlich durch paramilitärische Gruppen. Ausgangssperren wurden von den Gewaltakteuren durchgesetzt“, sagt er. In einigen Fällen hätten Kinder und Jugendliche Hausaufgaben zur Lehrerin bringen wollen und seien ermordet wurden. „Diese Gewalt ist reine Machtdemonstration“, betont Peters.
Der Konflikt ist laut Peters willkürlicher geworden. Aber es treffe vor allem Jugendliche aus ländlichen Gebieten, die eher arm und benachteiligt seien. Wer genau die Täter sind, bleibt unklar. Es fehlt am Aufklärungswillen der Polizei, die oft selbst beteiligt ist, und an Gerichten, die unterbesetzt und in vielen Gegenden nicht präsent sind. Camilo González Posso, Direktor von Indepaz, sagt, es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen fehlender Justiz und der Konfliktdynamik.
Präsident Iván Duque macht ehemalige Farc-Kämpfer und die ELNGuerilla für die „kollektiven Morde“verantwortlich. Paramilitärische Gruppen, die sich nach ihrer Entwaffnung 2005/2006 neu formierten, nannte er nicht. Duques Mentor und Vorgänger, Álvaro Uribe, werden Verbindungen zu den Paramilitärs nachgesagt, die seit den 1960er-Jahren einen Großteil der Massaker an der Zivilbevölkerung verübten. Der rechtskonservative Senator und ExPräsident (2002 bis 2010) steht derzeit unter Hausarrest. Wie Uribe versucht auch Duque, das Sicherheitsproblem vor allem mit militärischer Präsenz zu regeln.
Ungelöst bleiben die prekäre soziale Lage der Bevölkerung und ihre mangelnde Perspektive. „Um aus der Spirale der Gewalt rauszukommen, müssen Bildung, ein besseres Gesundheitswesen und die ländliche Entwicklung sehr viel mehr Priorität bekommen“, sagt Peters. Wie schon in den 1960ern, als sich der Bürgerkrieg daran entzündete, sieht er die Landfrage als eine der Hauptursachen für die derzeitige Gewalt. Weder die rund 7,7 Millionen Binnenflüchtlinge des Bürgerkrieges noch die rund 7000 entwaffneten FarcKämpfer haben Land und damit eine Chance für ihren Lebensunterhalt bekommen.
Zugleich hat der Koka-Anbau in Kolumbien statt zurückzugehen laut den UN ein neues Rekordniveau erreicht. Grund dafür ist auch das im Friedensvertrag vereinbarte, aber weitgehend fehlgeschlagene Substitutionsprogramm. Bauern sollten motiviert werden, nicht Koka, sondern zum Beispiel Kaffee anzubauen. Allerdings ist die dafür zuständige Behörde unterfinanziert und zahlt nur unregelmäßig vereinbarte Unterstützungsleistungen an die Bauern.
Viele Kolumbianer wie Jesús Quintero haben an den Frieden geglaubt und sind jetzt tief enttäuscht. Auch Lokalpolitiker fühlen sich im Stich gelassen. „Nach Unterzeichnung des Friedensabkommens war drei Jahre Ruhe. Doch mit dem Drogenhandel kommt die Gewalt“, sagt der Gouverneur von Nariño, Jhon Rojas.