Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Junge Menschen in Gefahr

Die zunehmende Gewalt in Kolumbien trifft vermehrt Jugendlich­e

- Von Susann Kreuzmann

BERLIN/BOGOTÁ (epd) - Eine neue Gewaltwell­e erschütter­t Kolumbien, vier Jahre nach dem Abkommen zwischen Regierung und Guerilla. Die Versäumnis­se des Friedenspr­ozesses und die ungeklärte Landfrage heizen den Konflikt an.

Umgeworfen­e Plastikstü­hle, leere Cola-Dosen und eine blutversch­mierte Mütze. Der Student Sebastían Quintero war an einem Samstagabe­nd im August zum Grillen bei Freunden eingeladen. Auf einmal stürmten vermummte Männer das Grundstück in Samaniego, einer Gemeinde der Provinz Nariño in Zentralkol­umbien, und schossen wahllos auf die Gruppe. Acht junge Leute wurden getötet.

Wer die Mörder waren und warum sie ausgerechn­et die Studenten erschossen haben, ist völlig unklar. Sein Sohn habe studiert und in seiner Freizeit Fußball gespielt, erzählte Sebastiáns Vater, Jesús Quintero, kolumbiani­schen Medien. Er sei niemals in etwas Kriminelle­s verwickelt gewesen. „Der Frieden war unser Traum, doch es hat sich nichts geändert.“

Vier Jahre nach Unterzeich­nung des Friedensve­rtrags zwischen Regierung und Farc-Guerilla, der fünf Jahrzehnte blutigen Konflikts beenden sollte, wird Kolumbien von einer neuen Gewaltwell­e erschütter­t. Nach Angaben des Institutes für Entwicklun­g und Frieden (Indepaz) gab es in diesem Jahr bereits 65 Massaker, bei denen insgesamt 260 Menschen getötet wurden. Oft waren die Opfer Jugendlich­e, aber auch Kinder sowie Aktivistin­nen und Aktivisten. Damit ist dieses Jahr das gewalttäti­gste seit 2013.

Die Massaker geschahen abgelegen in den Bergen oder in ehemaligen Kampfgebie­ten der Farc, so wie Nariño. Der Staat ist in diesen Regionen seit Langem weitgehend abwesend. Inzwischen haben paramilitä­rische Banden im Auftrag mexikanisc­her Kartelle die Kontrolle übernommen.

„Es gibt eine Zuspitzung der Situation in der Corona-Krise“, sagt Stefan Peters, Professor am DeutschKol­umbianisch­en Friedensin­stitut Capaz. „Es gab Zwangsrekr­utierungen von Minderjähr­igen, hauptsächl­ich durch paramilitä­rische Gruppen. Ausgangssp­erren wurden von den Gewaltakte­uren durchgeset­zt“, sagt er. In einigen Fällen hätten Kinder und Jugendlich­e Hausaufgab­en zur Lehrerin bringen wollen und seien ermordet wurden. „Diese Gewalt ist reine Machtdemon­stration“, betont Peters.

Der Konflikt ist laut Peters willkürlic­her geworden. Aber es treffe vor allem Jugendlich­e aus ländlichen Gebieten, die eher arm und benachteil­igt seien. Wer genau die Täter sind, bleibt unklar. Es fehlt am Aufklärung­swillen der Polizei, die oft selbst beteiligt ist, und an Gerichten, die unterbeset­zt und in vielen Gegenden nicht präsent sind. Camilo González Posso, Direktor von Indepaz, sagt, es gebe einen direkten Zusammenha­ng zwischen fehlender Justiz und der Konfliktdy­namik.

Präsident Iván Duque macht ehemalige Farc-Kämpfer und die ELNGuerill­a für die „kollektive­n Morde“verantwort­lich. Paramilitä­rische Gruppen, die sich nach ihrer Entwaffnun­g 2005/2006 neu formierten, nannte er nicht. Duques Mentor und Vorgänger, Álvaro Uribe, werden Verbindung­en zu den Paramilitä­rs nachgesagt, die seit den 1960er-Jahren einen Großteil der Massaker an der Zivilbevöl­kerung verübten. Der rechtskons­ervative Senator und ExPräsiden­t (2002 bis 2010) steht derzeit unter Hausarrest. Wie Uribe versucht auch Duque, das Sicherheit­sproblem vor allem mit militärisc­her Präsenz zu regeln.

Ungelöst bleiben die prekäre soziale Lage der Bevölkerun­g und ihre mangelnde Perspektiv­e. „Um aus der Spirale der Gewalt rauszukomm­en, müssen Bildung, ein besseres Gesundheit­swesen und die ländliche Entwicklun­g sehr viel mehr Priorität bekommen“, sagt Peters. Wie schon in den 1960ern, als sich der Bürgerkrie­g daran entzündete, sieht er die Landfrage als eine der Hauptursac­hen für die derzeitige Gewalt. Weder die rund 7,7 Millionen Binnenflüc­htlinge des Bürgerkrie­ges noch die rund 7000 entwaffnet­en FarcKämpfe­r haben Land und damit eine Chance für ihren Lebensunte­rhalt bekommen.

Zugleich hat der Koka-Anbau in Kolumbien statt zurückzuge­hen laut den UN ein neues Rekordnive­au erreicht. Grund dafür ist auch das im Friedensve­rtrag vereinbart­e, aber weitgehend fehlgeschl­agene Substituti­onsprogram­m. Bauern sollten motiviert werden, nicht Koka, sondern zum Beispiel Kaffee anzubauen. Allerdings ist die dafür zuständige Behörde unterfinan­ziert und zahlt nur unregelmäß­ig vereinbart­e Unterstütz­ungsleistu­ngen an die Bauern.

Viele Kolumbiane­r wie Jesús Quintero haben an den Frieden geglaubt und sind jetzt tief enttäuscht. Auch Lokalpolit­iker fühlen sich im Stich gelassen. „Nach Unterzeich­nung des Friedensab­kommens war drei Jahre Ruhe. Doch mit dem Drogenhand­el kommt die Gewalt“, sagt der Gouverneur von Nariño, Jhon Rojas.

 ?? FOTO: LUIS ROBAYO/AFP ??
FOTO: LUIS ROBAYO/AFP

Newspapers in German

Newspapers from Germany