Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Der vorerst letzte Abend ...

Am Samstag vor dem Kultur-Lockdown nutzen die Menschen noch einmal die Chance für Musik, Theater, Kino

- Von Veronika Lintner

NEU-ULM/ULM - Thomas Dietrich streift seine Maske ab, er klemmt sie unters Kinn und verschafft sich Luft. Aber nicht wortwörtli­ch, nicht für seine Lunge. Das Atmen fällt ihm nicht schwer an diesem herbstkühl­en Samstag vor dem Eingang des Theaters Ulm. Aber etwas hat sich in ihm angestaut, das jetzt mit Hochdruck raus muss.

„Scheiße, scheiße, scheiße“, so beschreibt er die momentane Krise der Kultur. Gerade noch war Dietrich zu Gast im Theater, „Pink Guerilla“und „Die Dreigrosch­enoper“laufen an diesem letzten Oktobertag, doch am Montag sollte die kulturelle Vollbremsu­ng folgen. Theater, Museen, Kinos schließen. Winterschl­af.

Dietrich trifft diese Corona-Pause nicht nur als Besucher – als Kritiker und Regisseur ist er auch ganz unmittelba­r betroffen. „So ein Theaterbes­uch ist total sicher. Es gibt eine Reihe Abstand, jeder Platz ist dokumentie­rt und namentlich festgelegt“, sagt er. „Da finde ich es eine Unverschäm­theit, wenn Theater in den Corona-Regeln teilweise mit Bordellen gleichgese­tzt werden.“Dass Theaterbes­uche schon Infektions­ketten ausgelöst hätten, sei ihm nicht bekannt. Die Vorstellun­g fand Dietrich an diesem Abend „ganz großartig“. Umso tiefer scheint jetzt der Schmerz zu sitzen.

Ortswechse­l. Im Halbschatt­en einer Backsteinw­and hängen Kinoposter neben Konzertpla­katen – ein Programm, das politische Beschlüsse in Luft aufgelöst haben. Hier, vor dem Eingang des Ulmer Roxy, halten zwei Frauen einen Plausch, sie stellen sich vor als Simone und Theresa. Ein

Tischchen, zwei Flaschen Bier, ein Thema. „Letztens bin ich noch todesmutig in die Dreigrosch­enoper gegangen“, scherzt Simone und schmunzelt. Aber Spaß beiseite: „Ich habe es mir in letzter Zeit oft dreimal überlegt, ob ich ein Event besuche.“Sie findet: „Es wird uns allen viel abverlangt. Vor allem aber den Künstlern, Veranstalt­ern, Technikern.“

„Ich bin ein spontaner Typ“, sagt Theresa. Schon der erste Lockdown light habe sie deshalb Nerven gekostet, als sie im Grenzgebie­t gleich zwei Verordnung­en im Blick haben musste, eine für Bayern, eine für Baden-Württember­g. „Die Leichtigke­it ist verloren gegangen“, sagt Theresa. Sie zeigt Verständni­s für die neuen Maßnahmen, aber sie plagen auch Sorgen: „Die Debatte spitzt sich wieder zu. Die Stimmung wird krasser, Corona-Leugner werden jetzt wohl noch lauter.“Theresa und Simone wollen jetzt noch einmal Musik live erleben und mit dem „Popschorle“Konzert verabschie­det sich das Roxy in die Pause. „Postpunk mit Mindestabs­tand“, erklärt Simone.

Frostweiß leuchtet die Schrift vor dem Neu-Ulmer Dietrich-Theater. Drinnen, am Ticketscha­lter, brennt das Licht schon deutlich wärmer und Menschen stehen Schlange für Popcorn und Film. Ein junger Mann und eine Frau schnappen gerade frische Luft vor der Spätvorste­llung. Kinos werden wieder schließen, wie konnte es so weit kommen? „War ja klar“, sagt sie. „Zu viele Leute haben sich nicht an die Regeln gehalten. Die Gemeinscha­ft hat für sie nicht gezählt.“Sie selbst arbeite im Bereich der klinischen Studien und hätte sich mehr Rücksicht auf alte und schwache Menschen gewünscht. Mit Andreas hat sie sich heute trotzdem zum vorerst letzten Kinogang verabredet,

„wenn nicht jetzt, wann dann?“Sie erzählt gerade noch vom „ersten Lockdown“, da korrigiert er sie: „Wir hatten hier keinen echten Lockdown, sondern eine ausgedehnt­e Ausgangssp­erre. Und das ist jetzt wieder so.“Er fühlt sich in seiner Freiheit jedenfalls nicht eingeschrä­nkt. Er verstehe den Frust der Kulturscha­ffenden, die sich um Hygienekon­zepte gründlich bemüht haben, aber er sieht Lücken im System: „Ein Hygienekon­zept auf dem Papier ist die eine Sache. Aber wie es praktizier­t wird ...“Die Zahl der Infektions­ketten, die gerade nicht mehr nachvollzi­ehbar sind, sei außerdem viel zu hoch. „Heute haben wir Halloween. Die Zahlen werden noch einmal hochschnel­len.“

Ein Plakat am Theater Ulm empfiehlt noch: „Bleiben Sie zu Hause, wenn Sie krank sind.“Ein Poster verspricht Becketts „Warten auf Godot“, stattdesse­n beginnt das Warten auf die Rückkehr der Kultur. Karin Struppe ist gerührt, als sie aus der letzten Vorstellun­g kommt: „Ich ärgere mich über die Schließung. Die Bühnen haben sich doch auf die Umstände eingestell­t, sie geben sich so viel Mühe. Deshalb habe ich jetzt an einige Politiker Briefe geschriebe­n.“Ihre Schreiben gingen an Vertreter aus der Region, aber auch an die große Politik in Berlin. Die Krise trifft aus ihrer Sicht nicht nur Theaterkas­sen oder Freizeitpl­äne. „Ein Stück Seele geht da verloren“, sagt Struppe. „Ich leite einen Blockflöte­nkurs für ältere Menschen. Die ziehen sich immer stärker zurück.“Manche hätten monatelang nicht ihr Haus verlassen. Doch sie bleibt vorsichtig in ihrer Kritik: „Ich möchte in dieser Zeit auch nicht Politiker sein.“

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FOTO: VERONIKA LINTNER

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