Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Der „Islamische Staat“war nie weg
Terrororganisation schien besiegt – Wie stark ist die Miliz heute?
TUNIS - Gut ein Jahr ist es her, dass ein US-Spezialkommando Abu Bakr Al-Baghdadi in seinem Versteck in der syrisch-türkischen Grenzregion aufspürte und erschoss. Mit dem Tod des selbst ernannten Kalifen schien die Terrormiliz endgültig erledigt. Ihr Gottesstaat auf syrischem und irakischem Territorium lag in Trümmern, die meisten Anführer waren tot, Abertausende Kämpfer saßen in kurdischen und irakischen Gefängnissen. Doch die Erleichterung dauerte nicht lange.
Inzwischen operieren die Jihadisten in den unwirtlichen Wüstengebieten zwischen Syrien und Irak wieder nahezu ungehindert. Schwer bewaffnete IS-Konvois durchstreifen die Badia-Wüste östlich von Homs und westlich von Deir Ezzor. Erst vor zwei Monaten lieferten sich die Gotteskrieger eine einwöchige Schlacht mit der syrischen Armee, bei der 48 Soldaten starben, 50 werden seitdem vermisst.
Nach Erkenntnissen westlicher Experten existieren in den dünn besiedelten Landstrichen mittlerweile Hunderte, wenn nicht Tausende Verstecke, alle ausgestattet mit Kommunikationstechnik, Sprit, Generatoren, Sprengstoffvorräten und Bombenwerkzeug. Auch in den Städten konnte der IS seine lokalen Netzwerke reaktivieren, „die es ihm erlauben, zuzuschlagen, wann er will, zunehmend auch, wo er will, und mit größerer Gewalt“, erläuterte Nicholas Heras vom „Institute for the Study of War“.
Die Zahl der aktiven IS-Krieger in Syrien und Irak schätzt der jüngste UN-Bericht für den Weltsicherheitsrates auf mindestens 10 000. Sie verfügen über Finanzmittel in Höhe von 100 Millionen Dollar und bewegen sich „in kleinen Zellen frei zwischen den beiden Ländern“. Gleichzeitig sitzen in den Kurdenregionen Syriens 12 000 männliche IS-Fanatiker in Haft, darunter 2500 Ausländer aus mehr als fünfzig Nationen. Kaum ein Land will diese gefährlichen Gotteskrieger zurückhaben. Und so begannen die Kurden kürzlich, die ersten 600 IS-Insassen freizulassen, von denen einige sofort wieder in den Weiten der Wüste abtauchten.
Aber auch in anderen Teilen der Welt sind IS-Terrorkommandos unverändert aktiv. In Kabul starben am Montag bei einem Angriff auf die Universität 22 Studenten. Zwei Wochen zuvor riss ein Selbstmordattentäter dort in einem Schulzentrum 24 Lehrer und Kinder mit in den Tod. In Mosambik gelang es der Terrormiliz sogar mit Mocimboa da Praia einen ganzen Hafen in ihre Gewalt zu bringen. Im Nordsinai von Ägypten kommt es fast täglich zu Angriffen auf Zivilbevölkerung, Polizisten und Soldaten. Und auch der getötete Attentäter von Wien, dessen Eltern aus Nordmazedonien stammen, stand mit dem IS in Verbindung.
Dagegen hatte der 18-jährige Tschetschene, der in Paris dem Lehrer Samuel Paty auflauerte und mit einem Schlachtermesser den Kopf abschnitt, nach Medienberichten Kontakt zu Al-Qaida-Extremisten in der nordsyrischen Enklave Idlib. Deren Zahl wird auf 8000 bis 10 000 geschätzt, was Idlib laut dem früheren UN-Syrien-Vermittlers Staffan de Mistura zum „Ort mit der höchsten Konzentration von Al-Kaida auf dem Globus“macht.
Am anderen Ende der arabischen Welt, in den Maghreb-Staaten Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen, konkurrieren beide Terrororganisationen IS und Al-Kaida miteinander. In Westafrika schätzen UNExperten die Zahl der IS-Anhänger mittlerweile auf 3500. Die gesamte Sahelzone sei eine „tickende Zeitbombe”, erklärte der marokkanische Polizeichef Abdelhak Khiame, nachdem seine Beamten in Tanger und Rabat eine Terrorzelle ausheben konnten. Auch der tunesische Attentäter von Nizza, der in der Kathedrale drei Menschen mit dem Messer ermordete, soll von IS-Hintermännern gesteuert worden sein. Für das kommende Wochenende kündigte sich daher der französische Innenminister Gerald Darmanin in Tunis an. Er will darauf pochen, dass der Mittelmeeranrainer endlich seine 231 Landsleute zurücknimmt, die in Frankreich als Terrorverdächtige registriert sind.