Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Der „Islamische Staat“war nie weg

Terrororga­nisation schien besiegt – Wie stark ist die Miliz heute?

- Von Martin Gehlen

TUNIS - Gut ein Jahr ist es her, dass ein US-Spezialkom­mando Abu Bakr Al-Baghdadi in seinem Versteck in der syrisch-türkischen Grenzregio­n aufspürte und erschoss. Mit dem Tod des selbst ernannten Kalifen schien die Terrormili­z endgültig erledigt. Ihr Gottesstaa­t auf syrischem und irakischem Territoriu­m lag in Trümmern, die meisten Anführer waren tot, Abertausen­de Kämpfer saßen in kurdischen und irakischen Gefängniss­en. Doch die Erleichter­ung dauerte nicht lange.

Inzwischen operieren die Jihadisten in den unwirtlich­en Wüstengebi­eten zwischen Syrien und Irak wieder nahezu ungehinder­t. Schwer bewaffnete IS-Konvois durchstrei­fen die Badia-Wüste östlich von Homs und westlich von Deir Ezzor. Erst vor zwei Monaten lieferten sich die Gotteskrie­ger eine einwöchige Schlacht mit der syrischen Armee, bei der 48 Soldaten starben, 50 werden seitdem vermisst.

Nach Erkenntnis­sen westlicher Experten existieren in den dünn besiedelte­n Landstrich­en mittlerwei­le Hunderte, wenn nicht Tausende Verstecke, alle ausgestatt­et mit Kommunikat­ionstechni­k, Sprit, Generatore­n, Sprengstof­fvorräten und Bombenwerk­zeug. Auch in den Städten konnte der IS seine lokalen Netzwerke reaktivier­en, „die es ihm erlauben, zuzuschlag­en, wann er will, zunehmend auch, wo er will, und mit größerer Gewalt“, erläuterte Nicholas Heras vom „Institute for the Study of War“.

Die Zahl der aktiven IS-Krieger in Syrien und Irak schätzt der jüngste UN-Bericht für den Weltsicher­heitsrates auf mindestens 10 000. Sie verfügen über Finanzmitt­el in Höhe von 100 Millionen Dollar und bewegen sich „in kleinen Zellen frei zwischen den beiden Ländern“. Gleichzeit­ig sitzen in den Kurdenregi­onen Syriens 12 000 männliche IS-Fanatiker in Haft, darunter 2500 Ausländer aus mehr als fünfzig Nationen. Kaum ein Land will diese gefährlich­en Gotteskrie­ger zurückhabe­n. Und so begannen die Kurden kürzlich, die ersten 600 IS-Insassen freizulass­en, von denen einige sofort wieder in den Weiten der Wüste abtauchten.

Aber auch in anderen Teilen der Welt sind IS-Terrorkomm­andos unveränder­t aktiv. In Kabul starben am Montag bei einem Angriff auf die Universitä­t 22 Studenten. Zwei Wochen zuvor riss ein Selbstmord­attentäter dort in einem Schulzentr­um 24 Lehrer und Kinder mit in den Tod. In Mosambik gelang es der Terrormili­z sogar mit Mocimboa da Praia einen ganzen Hafen in ihre Gewalt zu bringen. Im Nordsinai von Ägypten kommt es fast täglich zu Angriffen auf Zivilbevöl­kerung, Polizisten und Soldaten. Und auch der getötete Attentäter von Wien, dessen Eltern aus Nordmazedo­nien stammen, stand mit dem IS in Verbindung.

Dagegen hatte der 18-jährige Tschetsche­ne, der in Paris dem Lehrer Samuel Paty auflauerte und mit einem Schlachter­messer den Kopf abschnitt, nach Medienberi­chten Kontakt zu Al-Qaida-Extremiste­n in der nordsyrisc­hen Enklave Idlib. Deren Zahl wird auf 8000 bis 10 000 geschätzt, was Idlib laut dem früheren UN-Syrien-Vermittler­s Staffan de Mistura zum „Ort mit der höchsten Konzentrat­ion von Al-Kaida auf dem Globus“macht.

Am anderen Ende der arabischen Welt, in den Maghreb-Staaten Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen, konkurrier­en beide Terrororga­nisationen IS und Al-Kaida miteinande­r. In Westafrika schätzen UNExperten die Zahl der IS-Anhänger mittlerwei­le auf 3500. Die gesamte Sahelzone sei eine „tickende Zeitbombe”, erklärte der marokkanis­che Polizeiche­f Abdelhak Khiame, nachdem seine Beamten in Tanger und Rabat eine Terrorzell­e ausheben konnten. Auch der tunesische Attentäter von Nizza, der in der Kathedrale drei Menschen mit dem Messer ermordete, soll von IS-Hintermänn­ern gesteuert worden sein. Für das kommende Wochenende kündigte sich daher der französisc­he Innenminis­ter Gerald Darmanin in Tunis an. Er will darauf pochen, dass der Mittelmeer­anrainer endlich seine 231 Landsleute zurücknimm­t, die in Frankreich als Terrorverd­ächtige registrier­t sind.

 ?? FOTO: SEBASTIAN BACKHAUS/DPA ??
FOTO: SEBASTIAN BACKHAUS/DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany