Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Die Sicherheitsbehörden haben einen Fehler gemacht“
Die islamistischen Terroristen wollen beweisen, dass sie noch relevant sind, sagt Experte Peter Neumann
BERLIN - Der Terrorismusexperte Peter Neumann vom Londoner King’s College sieht die jüngsten Terrortaten als eine Überlebensstrategie der Terrororganisation „Islamischer Staat“(IS). Im Gespräch mit Stefan Kegel erklärt er, worum es bei Terroranschlägen wie jenen in Wien geht und warum aus seiner Sicht die Sicherheitsbehörden einen Fehler gemacht haben.
Müssen wir uns nach den Anschlägen von Dresden, Paris, Nizza und Wien auf eine Welle neuer islamistischer Gewalttaten einstellen?
Die Situation ist gespannter als in den letzten zwei Jahren. Seit der Zerschlagung des sogenannten Kalifates des Islamischen Staates fehlt der Organisation die Möglichkeit, große koordinierte Aktionen zu planen wie in Paris und Brüssel 2015 und 2016. Zudem gab es eine Sinnkrise unter den Dschihadisten. Das hat sich durch die Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in
Frankreich geändert. Die lange Zeit frustrierten IS-Anhänger haben wieder eine gemeinsame Sache, die sie motiviert und eint und für die sie bereit sind, Anschläge zu verüben.
Was ist das Ziel dieser Täter?
Bei Terroranschlägen geht es meist darum, die Bevölkerung einzuschüchtern, Nachahmer zu inspirieren und neue Anhänger zu mobilisieren. Als momentanen Hauptgrund sehe ich jedoch, dass der IS beweisen will, dass es ihn noch gibt und dass er noch relevant ist. Im Nahen Osten gelingt ihm das nicht. Also verlegt er sich auf den Westen. Allerdings schätze ich die Situation als bei Weitem nicht so gefährlich ein wie 2015/ 2016, als wir eine richtige Organisation mit Hauptquartier und Trainingseinheiten hatten.
Steht nach Ihrer Ansicht ein Mastermind hinter solchen Anschlägen?
Nein, aber die ideologische Saat ist seit Langem gesät. Strategien und Taktiken sind verbreitet. Und auch die Doktrin der radikalen Islamisten ist klar. Sie sagt: Ihr könnt tun, was ihr wollt, mit allen Mitteln, die euch zur Verfügung stehen. Das muss kein Führungskader mehr wiederholen.
Gibt es das Wettrennen zwischen IS und Al-Kaida noch?
Al-Kaida hat zurzeit vor allem in Afrika Erfolg. In Europa fehlt der Gruppe die Basis. Auch die Taktik der beiden unterscheidet sich. AlKaida plant eher größere Operationen, die ihr einen strategischen Effekt bringen. Der IS sagt potenziellen Tätern: ,Ihr müsst noch nicht mal zu uns gehören, aber wir reklamieren Eure Tat hinterher für uns.
Kann man sich gegen Einzeltäter überhaupt wappnen?
Ich wehre mich gegen den Begriff „einsamer Wolf “. Er unterstellt, dass derjenige nicht mit anderen kommuniziert und sich nur durch InternetVideos radikalisiert. Das ist aber mit wenigen Ausnahmen nicht das Muster. In Wien haben wir es mit jemandem zu tun, der wegen Terrorismusunterstützung vorbestraft und Teil der Dschihadistenszene war. Der Täter war kein einsamer Wolf, der aus dem Nichts kam. Die Sicherheitsbehörden haben einen Fehler gemacht.