Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Auf Tuchfühlung mit dem Genie
In seinem neuen Roman „Ein Mann der Kunst“nimmt Kristof Magnusson den Kulturbetrieb unter die Lupe
Kultur und Krise: Wer im Kulturbereich tätig ist, erfährt am eigenen Leib, welchen Stellenwert Kunst in dieser Gesellschaft hat. Nicht nur Künstlerinnen und Künstler. Auch all den anderen, die kulturelle Veranstaltungen möglich machen, von der Beleuchterin bis zum Maskenbildner, wird schmerzhaft bewusst, dass das, was sie machen, dem Staat, also uns allen, offenbar nicht so viel wert ist wie Autoindustrie, Luftfahrt oder Tourismus. Die Kultur hat keine Lobbyisten an den Kabinettstischen von Bund und Ländern.
Doch allmählich artikuliert sich Unmut. Unmut darüber, dass Oper und Bordell in einem Atemzug genannt und unter der Rubrik „Freizeitaktivitäten“abqualifiziert werden. Unmut darüber, dass die Hilfsprogramme für sogenannte Soloselbstständige im Kulturbereich nicht taugen, weil sie keine Ladenmiete zahlen und keine Geschäftswagen leasen. Unmut darüber, dass Hygienekonzepte in Museen oder Theatern von den Verantwortlichen nicht gewürdigt und die pauschalen Verbote von Aufführungen nicht ausreichend begründet wurden. Prominente Musikerinnen und Musiker wie Anne-Sophie Mutter, Till Brönner und Daniel Hope setzen sich für die vielen Kolleginnen und Kollegen ein, die durch das abermalige Veranstaltungsverbot in ihrer Existenz bedroht sind.
Am Montagabend sind Orchester in München und Berlin auf die Bühne gegangen und haben 20 Minuten lang still ausgeharrt. „#SangUndKlanglos“war eine Protestaktion des Bündnisses #AlarmstufeRot, das von der Veranstaltungswirtschaft ins Leben gerufen wurde und auf die prekäre Situation in der Kulturbranche aufmerksam machen will.
Alle Vertreter von Institutionen wie Museen und Theatern haben sich in ihren Protestschreiben an die Politiker zu Vorsichtsmaßnahmen bekannt. Und sie verweisen darauf, dass ihre Institutionen eben keine Hotspots des Infektionsgeschehens waren. Der Bundesverband Schauspiel schreibt: „Theater zu schließen, obwohl sie derzeit kein Risiko darstellen, ist weder sinn- noch maßvoll. Gerade kleinere und nicht öffentlich geförderte Häuser werden diesen erneuten und vollkommen unnötigen Schlag vor den Bug nicht überleben. Und mit ihnen werden viele Schauspieler*innen ihren Beruf aufgeben müssen. Ein kultureller Kahlschlag ohne Beispiel wird die Folge sein.“
Der „kulturelle Kahlschlag“ist kein Phänomen der Metropolen. Auch hier in Oberschwaben wird dies gravierende Folgen haben. Ein
Beispiel aus dem Südwesten: Die Kammerphilharmonie BodenseeOberschwaben (KBO) ist ein privates Orchester von Musikpädagogen. Es ist kein festes Ensemble, das öffentlich gefördert wird, wie die Südwestdeutsche Philharmonie in Konstanz oder das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm. Die Kammerphilharmonie, ein Verein mit derzeit 88 aktiven Orchestermitgliedern und weiteren 235 Aushilfen, arbeitet projektbezogen für Chöre vom Bodensee bis nach Ulm und Bregenz. Kirchenchöre engagieren das Orchester, das der Geschäftsführer, der Klarinettist Lenard Ellwanger, je nach den musikalischen Anforderungen zusammenstellt: „Alle Kolleginnen und Kollegen, die in der Kammerphilharmonie spielen, sind Profimusiker mit einem abgeschlossenen Studium.“
Dass die meisten von ihnen bei Musikschulen fest angestellt sind, bietet eine gewisse Absicherung. Denn wie Ulrich Gröner, emeritierter Professor für Violine an der Hochschule der Künste in Zürich, Konzertmeister und erster Vorsitzender der Kammerphilharmonie, anfügt: Nur die wenigsten von ihnen haben – wie Lenard Ellwanger an der Jugendmusikschule Württembergisches Allgäu in Wangen – einen 100-Prozent-Vertrag. Die meisten arbeiten in Teilzeit. Um über die Runden zu kommen, sind die Auftritte mit der Kammerphilharmonie, die extra honoriert werden, von existenzieller Bedeutung für die Musikerinnen und Musiker. „Wir garantieren ihnen ein Mindesthonorar,“erklären die beiden im Gespräch. „Das beträgt in der Regel für eine Probe und ein Konzert 170 Euro und steigert sich für aufwendigere Werke wie ein großes Oratorium.
Werden mehrere Konzerte im Monat gegeben, dann können die Orchestermitglieder schon mal 400 oder 500 Euro dazuverdienen. Aber das ist die Ausnahme.“
Reich wird man damit nicht, aber wenn dieser Betrag wegfällt, wird es vor allem für die vielen Teilzeitkräfte an den Musikschulen sehr eng. Denn das Gehalt eines Musikschullehrers (TVöD 9b) liegt unter dem eines Grundschullehrers. In diesem Jahr hat die Kammerphilharmonie Bodensee-Oberschwaben noch kein einziges Konzert gegeben. Und wird es vermutlich auch nicht mehr tun. Alles abgesagt. Denn ihre Auftraggeber, die Chöre, dürfen ja nicht einmal zu Proben zusammenkommen, geschweige denn auftreten. Ellwanger rechnet vor: „Von den elf geplanten Konzerten hat keines stattgefunden. Darunter waren kleinere wie Bach-Kantaten, aber auch sehr große Projekte wie eine Beethoven-Gala in Memmingen. Einiges konnte aufs nächste Halbjahr verschoben werden. Aber der finanzielle Ausfall beträgt mindestens 120 000 Euro.“
Das ist für die Kammerphilharmonie ein schwerer Schlag. Ellwanger würde sich wünschen, dass vielleicht die ein oder andere Kommune dem Orchester einen Auftrag für ein sinfonisches Konzert gibt. Aber er ist so lange im Geschäft, dass er weiß, dass die öffentliche Hand in Krisenzeiten immer zuerst bei der Kultur den Rotstift ansetzt.
Orchester konnten in großen Häusern unter Einhaltung der Abstandsregeln vor einem kleinen Publikum spielen. Thomas Hengelbrock und sein Balthasar Neumann Ensemble haben am vergangenen Wochenende gerade noch vor der Schließung im Festspielhaus BadenBaden
Brahms’ Deutsches Requiem aufgeführt. In der Staatsoper München fand die Premiere von Wolfgang Braunfels’ „Die Vögel“vor 50 (!) Zuschauern statt. „Aber wir können uns das als privates Orchester nicht leisten. Das ist schlicht nicht finanzierbar“, sagt Ulrich Gröner.
Und wie kann das weitergehen? Die staatliche Hilfe müsste den Kultursektor angemessen berücksichtigen. Die Hilfsprogramme für Soloselbstständige greifen hier nicht. Wenn zum Beispiel nur das jeweilige monatliche Einkommen verglichen wird, dann ist das für einen freischaffenden Künstler nicht zielführend, weil er vielleicht im Vorjahresmonat gerade da keine Auftritte hatte.
Für Gröner ist diese Missachtung aus Unkenntnis der Szene auch ein Symptom unserer Gesellschaft: Kunst und Kultur werden von ihr nicht mehr als Wert erkannt und geschätzt. „Bei denen, die zu uns kommen, ist sie da, das spüren wir. Aber oft nicht bei den Entscheidungsträgern in den politischen Gremien.“
Lenard Ellwanger sieht das nicht ganz so pessimistisch. Da er als Klarinettist auch viele Schüler hat, die in Blaskapellen spielen, sei Musik, durchaus auch die klassische, breit verankert in der Region. Und was Oberschwaben angehe, zeigten sich die Städte und Landkreise noch immer aufgeschlossen gegenüber der Musikszene. Aber auch er weiß: Wenn die Künstler kein Auskommen mehr haben, dann werden sie die Region verlassen. „Kaputt gemacht ist schnell etwas, aufbauen aber dauert lange“, ergänzt Gröner.
Eine Lobby für die Kultur – wie könnte die aussehen? Eine gemeinsame Stoßrichtung scheint sich erst jetzt im Krisenmodus herauszuschälen. Und wie mühsam das alles ist, zeigt ein Beispiel aus Bayern: Die Intendanten der Münchner Theater haben sich am vergangenen Mittwoch mit einem gemeinsamen Brief an Ministerpräsident Söder gewandt. Die übrigen bayerischen Bühnen zogen erst am Montag mit ihrem Protest nach. Da könnte man sich schon fragen, warum nicht alle mit einer Stimme sprechen.
Aber die Situation ist komplex, die Lage freier Ensembles ist anders als die großer, staatlich subventionierter Häuser oder Klangkörper. Ein fest angestellter Musiker eines Rundfunksinfonieorchesters bekommt Kurzarbeitergeld, ein freier gar nichts. Und wenn er schließlich auf Hartz IV verwiesen wird, kann es sein, dass die Arbeitsagentur einem Pianisten sagt, er müsse sich zuerst von seinem wertvollsten Besitz trennen und sein Klavier verkaufen. Der berühmte Dirigent Sir Simon Rattle hat schon die Befürchtung geäußert, dass viele junge Musikerinnen und Musiker die Kunst aufgeben und sich einen anderen Job suchen.
Man kann ihn gar nicht besser erfinden, diesen KD Pratz. Seine Bilder werden für Millionen gehandelt, ganz oben steht er im Ranking der deutschen Maler, weil er in allem entschiedener ist als Richter, Kiefer, Baselitz, egal, welche
Ismen gerade angesagt sind. Doch der Kunstbetrieb geht ihm mächtig auf die Nerven, die seltenen Interviews arten grundsätzlich in globale Beschimpfungen aus. Die Welt ist ja auch so schlecht geworden, so verlogen, oberflächlich, und dann noch der Turbokapitalismus! Deshalb hat sich dieser selbstmitleidige Misanthrop schon vor 20 Jahren auf einer eigenen Burg im Rheingau verschanzt, also kurz nach der sehr öffentlichkeitswirksamen Affäre mit der PerformanceKönigin Marina Abramovic. Ob und was er überhaupt noch malt, weiß nicht einmal sein Galerist Johann König. So einen lockt man allenfalls mit Unsterblichkeit aus der Reserve, in diesem Fall mit einem eigenen Museum.
Für seinen neuen Roman „Ein Mann der Kunst“ist Kristof Magnusson tief eingetaucht in den Kosmos der Kuratorinnen und Direktoren, der ministerialen Kulturfunktionäre von Monika Grütters Gnaden und – um sie geht es vor allem – der Fördervereine. Rechtsanwälte, esoterisch angehauchte Personalberaterinnen, mindestens einer mit Einstecktuch und richtig viel Geld, pensionierte Pastorenehepaare „in naturtrüben Blusen und Hosen“, Bildungshungrige mit „Hang zu Trockenobst-Snacks“und viele Lehrer tummeln sich in diesen Vereinigungen.
Auch Ingeborg gehört zu diesen Streitern für das Gute, Wahre, aber nicht zwingend Schöne. Die ziemlich emanzipierte Psychotherapeutin im Ruhestand ist wahrscheinlich die eifrigste Anhängerin des grandiosen KD Pratz – dessen Chauvinismus ignoriert sie souverän – und
Vorsitzende des Fördervereins für das Frankfurter Museum Wendevogel direkt am Main. Die Sammlung in einer überkandidelten Fabrikantenvilla aus dem 19. Jahrhundert hat sich selbstredend der modernen und zeitgenössischen Kunst verschrieben.
Magnusson mischt reale Personen, Fakten und präzise konzipierte Fiktionen zu einem süffig aromatischen Cocktail, durchzogen von köstlichen Dialogen. Seine Klientel schildert er so kundig detailliert, dass man meinen möchte, er hätte Jahre seines Lebens in solchen Vereinen verbracht.
Er sei tatsächlich immer viel in Ausstellungen gewesen, erklärt der deutsch-isländische Schriftsteller am Telefon in Berlin, und im Freundeskreis würden einige im Kunstbereich arbeiten. Magnusson ist allerdings auch für seine minutiösen Recherchen bekannt, für sein letztes
Buch „Ein Arztroman“fuhr er tagelang im Rettungswagen mit. Und er kommt ohne besondere Überzeichnungen aus. Das hat im Vergleich zu überdrehten Satiren etwas anziehend Unaufgeregtes.
Wobei die Gschaftlhuberei um das Museumserweiterungsprojekt und das Gieren nach der Gunst des KD Pratz am Ende aberwitzige Wendungen nehmen. Dieses absurde Theater könnte in der Realität so ablaufen. Vorausgesetzt, der Dompteur trägt einen großen Namen.
Kristof Magnusson: Ein Mann der Kunst, Kunstmann, 238 Seiten, 22 Euro, Hörbuch, gelesen von Devid Striesow, 20 Euro.