Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Die EU am nächsten Abgrund
Warum Ungarn und Polen mit ihrer Blockadepolitik vor allem sich selbst schaden
BRÜSSEL - Der Ton wird schärfer. Sloweniens Premier sieht die EU im Finanzstreit auf einen Eisberg zusteuern. Frankreichs Europaminister sieht Europas Werte in Gefahr, wenn der umstrittene Rechtsstaatsmechanismus nicht eingeführt wird. Auch eine Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs am Donnerstagabend brachte keine Einigung – nach einer halben Stunde war Schluss. Doch worum geht es in dem Streit?
Die Corona-Krise trifft alle. Warum blockieren Polen und Ungarn die Gelder?
In der ersten Welle der Pandemie sah es so aus, als wären Spanien und Italien besonders schwer betroffen und würden daher am meisten von den bis zu 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfen profitieren. Inzwischen hat das Virus aber Osteuropa in aller Härte erreicht. Polen und Ungarn schneiden sich also ins eigene Fleisch, wenn sie mit ihrem Veto der erforderlichen Einstimmigkeit im Wege stehen. Sie blockieren auch den EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre in Höhe von 1050 Milliarden Euro, aus dem sie ebenfalls große Summen zu erwarten haben. Die Begründung ist schlicht: Da sie den verhassten Rechtsstaatsmechanismus, der mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wurde, nicht verhindern können, nehmen sie die in ganz Europa dringend benötigten Fördermilliarden in Geiselhaft.
Worum geht es beim neuen Rechtsstaatsmechanismus?
Gelder sollen nur dann ausgezahlt werden, wenn das jeweilige Land die ordnungsgemäße Vergabe unter rechtsstaatlichen Bedingungen sicherstellen kann. Die EU-Kommission schickt dem Rat eine Warnung, wenn sie berechtigte Zweifel hat, dass Mittel korrekt vergeben wurden und dass die rechtsstaatliche Kontrolle funktioniert. Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit den Start eines Verfahrens beschließen, an dessen Ende die Mittel eingefroren oder gestrichen werden. Im Gegensatz zum Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge soll es nicht darum gehen, ein ganzes Land auf den Prüfstand zu stellen. Die Prüfung beschränkt sich auf den Bereich, für den die Hilfen bestimmt sind.
Warum sind Polen und Ungarn so allergisch gegen das Verfahren?
Sie fürchten eine Fortsetzung der Artikel-7-Verfahren durch die Hintertür – mit dem zusätzlichen Nachteil, dass eine qualifizierte Mehrheit genügen würde. Beide Länder stehen bereits wegen rechtsstaatlicher Defizite am Pranger. Die Verfahren kommen aber nicht voran, da sie einstimmig beschlossen werden müssten und sich Polen und Ungarn gegenseitig mit einem Veto decken. Der neue Mechanismus sei „sehr wage und sehr weitreichend“, kritisierte Pawel Jablonski, Polens stellvertretender Außenminister. „Ein mögliches Risiko für den Rechtsstaat – das könnte buchstäblich alles sein.“Es gebe Hinweise, dass so sachfremde Themen wie Rechte für Homosexuelle oder Abtreibung die Sanktionen auslösen könnten. Ungarns Befürchtungen gehen in eine ähnliche Richtung. „Diejenigen, die ihr Land gegen Einwanderung verteidigen, werden in Brüssel nicht mehr als rechtstreu angesehen“, sagt Ungarns Premier Victor Orbán.
Sind sie im Rat isoliert?
Bislang haben nur Polen und Ungarn ihr Veto eingelegt. Sloweniens Premier Janez Jansa lässt aber Sympathien erkennen. Am Dienstag verglich er die EU in einem Brief an die
Ratspräsidentschaft mit der „Titanic“. „Wenn wir die historische Einigung, die wir beim Gipfel im Juli erreicht haben, infrage stellen, dann benehmen wir uns wie Reisende, die sich übers Menü streiten, während ihr Schiff auf einen Eisberg zusteuert.“Damit spielt Jansa darauf an, dass im Juli eine wage Formulierung zum Rechtsstaatsmechanismus einstimmig abgesegnet worden war. Das EU-Parlament hatte aber auf Nachschärfungen bestanden.
Welche Strategie fährt die deutsche Ratspräsidentschaft?
Bis zum Jahresende führt Deutschland die Ratsgeschäfte. Als größter Beitragszahler kann es Druck auf die Empfängerländer ausüben. Die ungarische Regierungspartei Fidesz gehört außerdem wie die CDU zur Europäischen Volkspartei. Orbán und Merkel sprechen häufig miteinander. Deshalb scheint der Moment günstig, um eine Einigung zu erzwingen. Deutschland ließ am Montag die Botschafter über das Thema abstimmen, um Fakten zu schaffen. Sonst werden strittige Themen meist auf Regierungsebene geschoben, wo man sich in langen Nachtsitzungen möglichst einen Konsens erarbeitet. In Corona-Zeiten
aber sind persönliche Treffen rar geworden. Die Zeit drängt, denn am 1. Januar wird ein neuer Haushalt gebraucht, im Frühjahr sollen die Corona-Hilfen ausgezahlt werden.
Gibt es einen Plan B?
Aus deutschen Diplomatenkreisen heißt es, der nun eingeschlagene Weg sei alternativlos. Sollten Polen und Ungarn bei ihrer Blockade bleiben, sei die reibungslose Auszahlung von EU-Fördergeldern nicht mehr möglich. Hinter den Kulissen wird aber an einem Ausweg gearbeitet, der es Polen und Ungarn ermöglichen würde, gesichtswahrend ihr Veto aufzugeben. Als Dankeschön könnte das verhasste Artikel-7-Verfahren vom Rat abgewiesen werden. Denkbar ist aber auch eine Lösung, die auf Konfrontation setzt: Die 25 einigen Regierungen würden dann im Rahmen einer „verstärkten Zusammenarbeit“den Haushalt und die Corona-Hilfen verabschieden und die beiden Abweichler im Regen stehen lassen. Für Europa wäre das eine noch nie da gewesene Zerreißprobe – ganz abgesehen von den prozeduralen Schwierigkeiten, die die Gemeinschaft in Brexitzeiten überhaupt nicht gebrauchen kann.