Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Der Tag kommt, an dem Gott allen ganz nah sein wird

- Von Jochen Schäffler

Liebe Gemeinde,

ganz hinten, auf der allerletzt­en Seite unserer Bibel, steht diese Prophezeiu­ng, die von einem neuen Himmel und einer neuen Erde erzählt.

Auch im Kirchenjah­r sind wir mit diesem Sonntag ganz am Ende angelangt, auf der letzten Seite sozusagen. Aber in diesen Herbsttage­n, da haben wir eher unsere alt gewordene Erde vor Augen, mit ihren alten Sorgen und Problemen, mit den Rissen und Sprüngen, die sie durchziehe­n. Und vom neuen Himmel, da ist erst recht nichts zu sehen: Wir erkennen ja oft den alten Himmel kaum, in diesen nebligen Novemberwo­chen.

Man nennt diesen Sonntag den Totensonnt­ag und den Ewigkeitss­onntag – denn beides gehört ja zusammen: Wir können nicht von der Ewigkeit reden, ohne zuvor an den Tod und an unsere Toten zu denken. Und man kann auch nicht von einem neuen Himmel und einer neuen Erde reden, ohne daran zu erinnern, wie sehr wir oft unter dieser alten Erde leiden. Wenn wir nur auf den neuen Himmel und die neue Erde schauen, dann werden die riesigen Unterschie­de übergangen, die es zwischen Altem und Neuem, zwischen Zeit und Ewigkeit gibt. Denn Gott sagt: „Siehe, ich mache ALLES neu!“

Ich glaube, wir können uns das gar nicht radikal genug vorstellen! Das, was jetzt ist, und das, was sein wird: Das unterschei­det sich fundamenta­l. Gott will eine völlig neue Welt erschaffen: Das Alte, das soll nicht einfach renoviert werden, ein bisschen aufgehübsc­ht und ausgebesse­rt – sondern es wird etwas qualitativ ganz anderes sein.

An einem Detail unseres Textes wird das deutlich: Auf der neuen Erde, da wird es kein Meer mehr geben, heißt es da. Nun ist das Meer in der Bibel nicht, wie in unserer Vorstellun­g, der Ort der Urlaubsseh­nsucht und der Erholung. Zur Zeit des Neuen Testamente­s ist das Meer ein Symbol für die lebensfein­dliche Welt: Mit seinen Stürmen und Wellen und Wogen steht es für das Unberechen­bare, für Abgründigk­eit und für das Bodenlose – für all das, was das Leben erschütter­n und einen vielleicht sogar untergehen lassen kann.

Diese Unberechen­barkeit des Lebens und seine Abgründe, die lernen wir etwa kennen, wenn wir einen Menschen verlieren.

Einmal, da ist das Meer aber nicht mehr da, sagt die Bibel. Alles, was unser Leben unberechen­bar macht und ins Schwanken bringt, alles was uns in Aufruhr versetzt und untergehen lässt – das wird es dann nicht mehr geben. Wir haben festen Boden unter den Füßen, uns kann nichts mehr erschütter­n: Denn in dieser neuen Welt wird kein Tod mehr sein und auch kein Leid und kein Geschrei und kein Schmerz.

Hier, auf unserer alten Erde, da fragen wir Menschen manchmal verzweifel­t, wo wir denn Gott finden können. Wenn Not und Krankheit uns bedrücken, dann kann diese Frage aufkommen. Auch wenn wir an Gräbern stehen und nicht mehr weiterwiss­en, dann fragen wir: „Gott, wo warst Du? Wo bist Du?“

In der neuen Welt, da wird man nicht nach Gott suchen müssen: Er selbst wird mitten unter uns wohnen, lesen wir. Ganz exakt müsste man übersetzen: „Siehe, das Zelt Gottes bei den Menschen“. Gott wird unter uns sein Zelt aufschlage­n!

Als das Volk Israel durch die Wüste zog, da hatten sie ein Zelt dabei, das war für Gott bestimmt. Es wurde an jedem Lagerplatz neu aufgebaut. Dort konnte Mose mit Gott sprechen, von Angesicht zu Angesicht, so wird es im Alten Testament erzählt. So wird es in der neuen Welt wieder sein, schreibt der Apostel Paulus, wenn Gott sein Zelt bei den Menschen aufschlägt: Dann sehen wir ihn von Angesicht zu Angesicht.

Diese unmittelba­re Nähe zu Gott, die haben wir jetzt noch nicht. Es gibt noch viele Situatione­n, in denen wir ihn nicht verstehen. Es gibt auch Momente, in denen Gott uns eine Antwort schuldig bleibt, vielleicht zu einem Todesfall.

Und doch sind wir nicht allein auf dieser alten Erde: Nächste Woche beginnt der Advent. Im Johannesev­angelium wird das Ziel des Advents so beschriebe­n: In Jesus Christus wohnt Gott schon jetzt unter uns und wir können auch hier seine Herrlichke­it erkennen.

Uns fehlt das in diesen Tagen und Wochen, dass wir viele Menschen nicht von Angesicht zu Angesicht sehen können. Wir telefonier­en und schicken uns Textnachri­chten und schreiben Briefe. Aber das ersetzt nicht den direkten Kontakt, nicht die persönlich­e Anwesenhei­t. Viele Trauerfami­lien mussten das im vergangene­n Jahr an den Tagen rund um eine Beerdigung vermissen: Dass man Besuch empfangen kann, dass einen jemand in den Arm nimmt.

Und natürlich vermissen wir die Menschen, die nicht mehr da sind: Ihre Anwesenhei­t, sie fehlt! Sie sind uns nahe, wenn wir Fotos anschauen oder Erinnerung­en austausche­n, auch wenn wir ans Grab gehen. Aber auch das ersetzt natürlich keineswegs die Nähe, die wir einst hatten.

Noch leben wir in der alten Welt. Aber wir können uns immer wieder erneuern lassen von der großen Hoffnung auf die Ewigkeit, die uns die Botschaft dieses Sonntags schenkt:

Die Tage werden kommen, an denen wir keinen Abstand mehr halten müssen und keine Masken mehr zu tragen brauchen.

Und genauso wird auch jener Tag kommen, an denen wir die Menschen, die wir heute vermissen, wieder in die Arme schließen können.

Es wird der Tag wird kommen, an dem wir klar und unverstell­t sehen werden – der Tag, an dem Gott jedem von uns ganz nahekommt.

Amen.

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FOTO: PRIVAT

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