Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Kinder des Krawalls
Nach den Unruhen von Stuttgart wollen Streetworker deeskalieren – Eine mühsame Arbeit
STUTTGART (lsw) - Simon Fregin hält nicht viel von Kameras, von Kontrollen und scharfen Sanktionen. Der Sozialarbeiter glaubt an das Miteinander-Reden. Manchmal können das auch profane Dinge sein. Gerade geht Fregin auf dem Mailänder Platz in der Stuttgarter Innenstadt in die Hocke, um dem 18 Jahre alten Ibrahim Wackelpudding zu beschreiben. „Das ist wie Pudding, sehr süß, grün und so durchsichtig“, erklärt er die Nachspeise. Ibrahim zieht an seiner Zigarette und hört interessiert zu. Hinter den beiden knattern zwei Jugendliche mit ihren Skateboards über den Asphalt. Wenn es nicht gerade um Nachtisch geht, hilft Fregin dem 18-Jährigen bei Behördengängen oder Bewerbungen – oder bei Ärger mit der Polizei.
Ärger mit der Polizei, das hat in Stuttgart in der Nacht auf den 21. Juni 2020 eine ganz neue Bedeutung bekommen. Für ein paar Stunden regiert auf den Straßen das Chaos. Dutzende von Krawallmachern schmeißen Pflastersteine auf Polizeiautos in der Innenstadt, schlagen Schaufenster im Einkaufsviertel ein und plündern Geschäfte. Ein Gewalttäter springt einem knieenden Polizisten von hinten in den Rücken. Solche Bilder hat man in der beschaulichen Schwabenmetropole vorher nie gesehen.
Die Behörden machen am nächsten Tag die „Partyszene“für die Gewalt verantwortlich. Aber mit ausgelassenem Feiern lässt sich das, was da passiert ist, schwer beschreiben. Politische Motive sollen auch nicht dahinterstecken. Eine geläufige Erklärung: Das waren aggressive junge Männer, die sich profilieren wollten, in der Gruppe und in den sozialen Medien. Aber warum Stuttgart? Und warum so plötzlich so heftig? Die Ursachen bleiben weiter im Dunkeln.
Stadt und Land kämpfen nun an mehreren Fronten, damit sich solche Szenen nie wiederholen. Videoüberwachung, Alkoholverbote oder Aufenthaltsbeschränkungen für öffentliche Plätze werden diskutiert. Die Polizei hat mehr als 100 Tatverdächtige ermittelt. Vier von fünf haben einen Migrationshintergrund – aber auch das erklärt nicht die Gewalt. Ein typisches Täterprofil? Fehlanzeige. Laut Innenministerium reicht das Spektrum vom 13-jährigen syrischen Flüchtling bis hin zum 29-jährigen Deutschen mit Ausbildung. Vor wenigen Tagen wurden in den ersten öffentlichen Prozessen zwei junge Randalierer wegen besonders schweren Landfriedensbruchs zu überraschend harten Gefängnisstrafen verurteilt – sie hatten die Scheiben von Polizeiautos eingeworfen.
Um eine Krawallnacht 2.0 zu verhindern, setzt die Stadt auch auf mehr Sozialarbeit. Fünf neue Stellen wurden geschaffen. Innenminister Thomas Strobl (CDU) bezeichnet den Einsatz von Streetworkern als wichtigen Baustein in der Sicherheitspartnerschaft von Stadt und Land. Aber er stellt auch klar: „Wenn Zureden und gute Gespräche allein helfen würden, dann hätte es keine Krawallnacht gegeben.“
Repression allein reiche nicht, findet Simon Fregin. Sein Team soll nun herausfinden, wo die Jugendlichen der Schuh drückt. „Solange wir die Ursachen nicht kennen, könnte das wieder passieren.“Auch in den Wintermonaten geht der 31-Jährige deshalb mit seinen Kollegen auf die Straße. Die Jugendlichen seien auf den öffentlichen Raum angewiesen, sagt Fregin – auch in Zeiten, in denen das öffentliche Leben auf Sparflamme läuft. Sie hängen auf der Straße ab, weil sie nicht wissen, wohin.
Ibrahim fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Er kam 2015 als Flüchtling mit seiner Familie aus Bagdad nach Deutschland. Zwar sind sie nicht mehr im Flüchtlingsheim, sondern leben in einer richtigen Wohnung, erzählt er. Aber für ein eigenes Zimmer für Ibrahim reicht es nicht. Der 18-Jährige schläft auf der Couch im Wohnzimmer.
Dort sitzt er auch in der Nacht auf den 21. Juni und schaut Fernsehen mit seiner Mutter, als in der Innenstadt die Gewalt eskaliert. Das sei „übel“gewesen, sagt er. Aber: „In Zeiten von Corona kann alles passieren.“Ob er selbst auch mitgemacht hätte? Ibrahim denkt kurz nach. „Nüchtern wär ich weggegangen.“Aber mit Alkohol – da ist er sich nicht mehr ganz so sicher.
Ibrahim erzählt so ungefiltert von seinem Alltag, dass man ihn für seine Ehrlichkeit bewundert, aber ab und an auch schlucken muss. Es geht um Langeweile, Perspektivlosigkeit und Frust. Darüber, nicht wirklich anzukommen, nicht akzeptiert zu werden in dem Land, in das man so hohe Erwartungen gesetzt hatte. „Wir haben viel Druck und Stress“, sagt er über sich und seine Kumpels. Bis vor zwei Jahren habe er viel Mist gebaut, habe getrunken, gekifft und sich häufig geprügelt. „Immer draußen“, erzählt Ibrahim. Häufig gab es Ärger mit der Polizei. Fast täglich wurde er kontrolliert. In die Clubs werde man als Ausländer nicht reingelassen. Bleibt nur die Straße.
Oder der Eckensee. Das ist der Ort in Stuttgart, an dem man sich trifft, wenn man nirgendwo rein darf. Oder wenn die Clubs wegen Corona geschlossen haben. Der Ort, an dem sich der Frust entladen hat. Fregin berichtet, dass die Lage in der Innenstadt schon vor der Krawallnacht angespannt gewesen sei. Über Monate hat sich Druck im Stuttgarter Kessel aufgestaut. Die meisten Beteiligten seien keine Verbrecher, ist der Streetworker überzeugt. „Das sind Jugendliche, die sich zeigen wollten.“Jugendliche, die vorher nie auffällig waren, hätten sich mitreißen lassen von der Stimmung, bei etwas Einmaligem dabei sein zu können.
„Alkohol, Drogen, Aggressionen – viele gestresste Menschen an einem Ort“, beschreibt Ibrahim selbst die Mischung. Er selbst hat heute weniger Stress als früher, hat sich „für den guten Weg“entschieden, wie er sagt. Dabei geholfen habe ihm vor allem Simon Fregin. Die beiden sehen sich fast täglich. Sozialarbeit ist mühsam. Oft dauert es viele Monate, bis die Streetworker eine Vertrauensbasis aufbauen können. Nicht immer klappt es.
Aber manchmal lohnt es dann doch. Gerade arbeitet Ibrahim an seinem Realschulabschluss. Ibrahim träumt von einer Ausbildung zum Lokführer, will mal Geld verdienen, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können und ein schönes Auto. Keiner werde als Gewalttäter geboren, sagt Fregin.