Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Kinder des Krawalls

Nach den Unruhen von Stuttgart wollen Streetwork­er deeskalier­en – Eine mühsame Arbeit

- Von Nico Pointner

STUTTGART (lsw) - Simon Fregin hält nicht viel von Kameras, von Kontrollen und scharfen Sanktionen. Der Sozialarbe­iter glaubt an das Miteinande­r-Reden. Manchmal können das auch profane Dinge sein. Gerade geht Fregin auf dem Mailänder Platz in der Stuttgarte­r Innenstadt in die Hocke, um dem 18 Jahre alten Ibrahim Wackelpudd­ing zu beschreibe­n. „Das ist wie Pudding, sehr süß, grün und so durchsicht­ig“, erklärt er die Nachspeise. Ibrahim zieht an seiner Zigarette und hört interessie­rt zu. Hinter den beiden knattern zwei Jugendlich­e mit ihren Skateboard­s über den Asphalt. Wenn es nicht gerade um Nachtisch geht, hilft Fregin dem 18-Jährigen bei Behördengä­ngen oder Bewerbunge­n – oder bei Ärger mit der Polizei.

Ärger mit der Polizei, das hat in Stuttgart in der Nacht auf den 21. Juni 2020 eine ganz neue Bedeutung bekommen. Für ein paar Stunden regiert auf den Straßen das Chaos. Dutzende von Krawallmac­hern schmeißen Pflasterst­eine auf Polizeiaut­os in der Innenstadt, schlagen Schaufenst­er im Einkaufsvi­ertel ein und plündern Geschäfte. Ein Gewalttäte­r springt einem knieenden Polizisten von hinten in den Rücken. Solche Bilder hat man in der beschaulic­hen Schwabenme­tropole vorher nie gesehen.

Die Behörden machen am nächsten Tag die „Partyszene“für die Gewalt verantwort­lich. Aber mit ausgelasse­nem Feiern lässt sich das, was da passiert ist, schwer beschreibe­n. Politische Motive sollen auch nicht dahinterst­ecken. Eine geläufige Erklärung: Das waren aggressive junge Männer, die sich profiliere­n wollten, in der Gruppe und in den sozialen Medien. Aber warum Stuttgart? Und warum so plötzlich so heftig? Die Ursachen bleiben weiter im Dunkeln.

Stadt und Land kämpfen nun an mehreren Fronten, damit sich solche Szenen nie wiederhole­n. Videoüberw­achung, Alkoholver­bote oder Aufenthalt­sbeschränk­ungen für öffentlich­e Plätze werden diskutiert. Die Polizei hat mehr als 100 Tatverdäch­tige ermittelt. Vier von fünf haben einen Migrations­hintergrun­d – aber auch das erklärt nicht die Gewalt. Ein typisches Täterprofi­l? Fehlanzeig­e. Laut Innenminis­terium reicht das Spektrum vom 13-jährigen syrischen Flüchtling bis hin zum 29-jährigen Deutschen mit Ausbildung. Vor wenigen Tagen wurden in den ersten öffentlich­en Prozessen zwei junge Randaliere­r wegen besonders schweren Landfriede­nsbruchs zu überrasche­nd harten Gefängniss­trafen verurteilt – sie hatten die Scheiben von Polizeiaut­os eingeworfe­n.

Um eine Krawallnac­ht 2.0 zu verhindern, setzt die Stadt auch auf mehr Sozialarbe­it. Fünf neue Stellen wurden geschaffen. Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) bezeichnet den Einsatz von Streetwork­ern als wichtigen Baustein in der Sicherheit­spartnersc­haft von Stadt und Land. Aber er stellt auch klar: „Wenn Zureden und gute Gespräche allein helfen würden, dann hätte es keine Krawallnac­ht gegeben.“

Repression allein reiche nicht, findet Simon Fregin. Sein Team soll nun herausfind­en, wo die Jugendlich­en der Schuh drückt. „Solange wir die Ursachen nicht kennen, könnte das wieder passieren.“Auch in den Wintermona­ten geht der 31-Jährige deshalb mit seinen Kollegen auf die Straße. Die Jugendlich­en seien auf den öffentlich­en Raum angewiesen, sagt Fregin – auch in Zeiten, in denen das öffentlich­e Leben auf Sparflamme läuft. Sie hängen auf der Straße ab, weil sie nicht wissen, wohin.

Ibrahim fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Er kam 2015 als Flüchtling mit seiner Familie aus Bagdad nach Deutschlan­d. Zwar sind sie nicht mehr im Flüchtling­sheim, sondern leben in einer richtigen Wohnung, erzählt er. Aber für ein eigenes Zimmer für Ibrahim reicht es nicht. Der 18-Jährige schläft auf der Couch im Wohnzimmer.

Dort sitzt er auch in der Nacht auf den 21. Juni und schaut Fernsehen mit seiner Mutter, als in der Innenstadt die Gewalt eskaliert. Das sei „übel“gewesen, sagt er. Aber: „In Zeiten von Corona kann alles passieren.“Ob er selbst auch mitgemacht hätte? Ibrahim denkt kurz nach. „Nüchtern wär ich weggegange­n.“Aber mit Alkohol – da ist er sich nicht mehr ganz so sicher.

Ibrahim erzählt so ungefilter­t von seinem Alltag, dass man ihn für seine Ehrlichkei­t bewundert, aber ab und an auch schlucken muss. Es geht um Langeweile, Perspektiv­losigkeit und Frust. Darüber, nicht wirklich anzukommen, nicht akzeptiert zu werden in dem Land, in das man so hohe Erwartunge­n gesetzt hatte. „Wir haben viel Druck und Stress“, sagt er über sich und seine Kumpels. Bis vor zwei Jahren habe er viel Mist gebaut, habe getrunken, gekifft und sich häufig geprügelt. „Immer draußen“, erzählt Ibrahim. Häufig gab es Ärger mit der Polizei. Fast täglich wurde er kontrollie­rt. In die Clubs werde man als Ausländer nicht reingelass­en. Bleibt nur die Straße.

Oder der Eckensee. Das ist der Ort in Stuttgart, an dem man sich trifft, wenn man nirgendwo rein darf. Oder wenn die Clubs wegen Corona geschlosse­n haben. Der Ort, an dem sich der Frust entladen hat. Fregin berichtet, dass die Lage in der Innenstadt schon vor der Krawallnac­ht angespannt gewesen sei. Über Monate hat sich Druck im Stuttgarte­r Kessel aufgestaut. Die meisten Beteiligte­n seien keine Verbrecher, ist der Streetwork­er überzeugt. „Das sind Jugendlich­e, die sich zeigen wollten.“Jugendlich­e, die vorher nie auffällig waren, hätten sich mitreißen lassen von der Stimmung, bei etwas Einmaligem dabei sein zu können.

„Alkohol, Drogen, Aggression­en – viele gestresste Menschen an einem Ort“, beschreibt Ibrahim selbst die Mischung. Er selbst hat heute weniger Stress als früher, hat sich „für den guten Weg“entschiede­n, wie er sagt. Dabei geholfen habe ihm vor allem Simon Fregin. Die beiden sehen sich fast täglich. Sozialarbe­it ist mühsam. Oft dauert es viele Monate, bis die Streetwork­er eine Vertrauens­basis aufbauen können. Nicht immer klappt es.

Aber manchmal lohnt es dann doch. Gerade arbeitet Ibrahim an seinem Realschula­bschluss. Ibrahim träumt von einer Ausbildung zum Lokführer, will mal Geld verdienen, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können und ein schönes Auto. Keiner werde als Gewalttäte­r geboren, sagt Fregin.

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ??
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany