Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wanderer im Dunkeln
Zum 100. Geburtstag des Lyrikers Paul Celan
FRANKFURT (epd) - Die „Todesfuge“ist sein bekanntestes Gedicht: eine Klage um die ermordeten Juden Europas: Vor 100 Jahren, am 23. November 1920, wurde Paul Celan als Sohn deutschsprachiger Juden in Czernowitz geboren.
„Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel / Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß. / Löwenzahn, so grün ist die Ukraine. / Meine blonde Mutter kam nicht heim.“Nein, sie wurde von einem SS-Mann mit einem Genickschuss ermordet, und ihr Mann starb in dem Zwangsarbeiterlager Michailowka an Cholera.
Wie so viele Überlebende der Schoah fühlte Paul Celan sich schuldig, weil er überlebt hatte. In der Lyrik suchte er Halt, im Leben fand er keinen. Nach acht Gedichtbänden und mehrmaligen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken setzte er am 20. April 1970 in Paris seinem Leben ein Ende. Zwei Lyrikbände erschienen als Nachlass.
Geboren wurde Celan in der Bukowina, die damals zu Großrumänien gehörte und heute Teil der Ukraine ist. Hier, in der vielsprachigen Kulturmetropole Czernowitz, kam er als Paul Antschel zur Welt, auf Rumänisch: Ancel. Später verkehrte er die Silben: Celan.
1940 kam Czernowitz in sowjetische Hand, ein Jahr später besetzten deutsche und rumänische Truppen die Stadt, die Juden wurden ins Ghetto gezwungen, deportiert, ermordet. Celan überlebte als Zwangsarbeiter im Straßenbau. Als die Rote Armee Czernowitz im August 1944 befreit hatte, kehrte er zurück, arbeitete als Übersetzer und Lektor in Bukarest, floh dann nach Wien und 1948 weiter nach Paris, wo er sich dauerhaft niederließ.
Im selben Jahr erschien in Wien sein erster Lyrikband unter dem Titel „Mohn und Gedächtnis“mit der berühmten „Todesfuge“– einer Totenklage, die er 1944 in seiner Muttersprache Deutsch verfasst hatte, bevor sie 1947 in Rumänien unter dem Titel „Todestango“auf Rumänisch erschien: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel, er trifft dich genau…“
Thomas Sparr, Literaturwissenschaftler und Mitgeschäftsführer des Suhrkamp Verlags, hat diesem Gedicht ein ganzes Buch gewidmet, in dem er die „Biografie“der „Todesfuge“nachvollzieht. „Ich habe zu schreiben versucht, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte“, sagte der Dichter 1958 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises. Diese Erkundungen wirkten auf seine Leser und Rezensenten oft unzugänglich. Deshalb hefteten sie seinen Versen das Prädikat „hermetisch“an: dicht verschlossen, geheimnisvoll. „Das hat Celan strikt abgelehnt, er wollte nicht festgelegt werden“, sagt Klaus Reichert, der den Dichter von 1966 an als Lektor im Suhrkamp Verlag betreute.
Celan hat sich selbst einmal als „Wanderer im Dunkeln“bezeichnet. Dunkel klingt auch seine „Engführung“aus dem Lyrikband „Sprachgitter“. Es ist die lyrische Erkundung eines Vernichtungslagers: „Der Ort, wo sie lagen, er hat / einen Namen – er hat / keinen.“
Dennoch suchte Celan in seinen Gedichten eine dialogische Wirklichkeit: Jedes Gedicht sollte eine „Flaschenpost“sein, die vielleicht an einem „Herzland“stranden konnte, sagte er einmal. Eine Seelenverwandte fand er in der Dichterin Ingeborg Bachmann. Ihr Briefwechsel erschien 2008 unter dem Titel „Herzzeit“.
Bachmann vermittelte ihm 1952 eine Lesung vor der „Gruppe 47“. Aber die deutschen Nachkriegsautoren konnten mit dem hymnischen Vortrag jüdisch-rumänischer Tradition nichts anfangen. „Wir haben darüber gelacht“, erinnerte sich Walter Jens 1976.
1960 wurde Celan mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Gleichzeitig machten ihm unhaltbare Plagiatsvorwürfe das Leben schwer. Celan fühlte sich bald von niemandem mehr verstanden. Paranoide Phasen führten zur Trennung von seiner Frau Gisèle Lestrange und seinem Sohn Eric. Am 1. Mai 1970 wurde der Dichter tot aus der Seine geborgen, am 12. Mai auf dem abgelegenen Cimetière parisien de Thiais beigesetzt.