Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Gegen das Vergessensein
„Haarkünstler“formten eindrucksvolle Erinnerungsstücke
RIEDLINGEN - Die Anzeige zum Gallusmarkt 1918, wonach „ausgegangene Haare und alte Gebisse“angekauft werden, hat bei manchem Leser Verwunderung ausgelöst. Von Gebissen konnten die Rohstoffe wieder- oder weiterverwendet werden. Bei Haaren reicht die Vorstellung eher zum „Puppendoktor“, der in seiner „Puppenklinik“stark bespielte Puppen reparierte oder ihnen neue Frisuren verpasste. Weniger bekannt ist die Verwendung von Althaar für Devotionalien und Schmuck, was besonders im 19. Jahrhundert weite Verbreitung gefunden hatte neben der Herstellung von Perücken, die zu bestimmten Zeiten aus gesellschaftlichen oder auch aus religiösen Gründen vorgeschrieben waren. Dafür wurden Haare weitgehend importiert.
Ein kleines Zubrot für junge Frauen bestand im Verkauf der meist vor der Hochzeit abgeschnittenen Zöpfe, die wegen der Haarlänge und der Gleichartigkeit der Haarmenge zur Weiterverarbeitung besonders gefragt waren. Die naheliegendste Verwendung von Althaar in unserer Region kennt man vielleicht noch über die „Sammelstelle“an der Frisierkommode. In einer aus Zelluloid geformten Tüte wurden ausgekämmte Haare gesammelt, um sie dann bei ausreichender Menge zur Unterstützung der Frisuren als Haarteil zu verwenden.
Haare nehmen im Volks- und Aberglauben und in vielen Kulturen eine besondere Stellung ein. Haare sind neben den Finger- und Fußnägeln der einzige Körperteil, der beständig nachwächst. Freiwilliges Haare abschneiden war ein Zeichen der Untertänigkeit und Knechtschaft, das Schneiden der Tonsur bei Mönchen und der Kurzhaarschnitt bei Novizinnen ein Zeichen der Verbundenheit mit Gott. Die erste Locke eines Kindes wurde als Glücksbringer in Medaillons gefasst, nahen Angehörigen wurden nach deren Ableben Haare abgeschnitten und zur Erinnerung aufbewahrt.
Trauerschmuck als Totengedenken entwickelte sich im 19. Jahrhundert vor allem in England. Broschen, Ringe, Armbänder, Ohrringe, Halsund Uhrketten wurden aus den abgeschnittenen Haaren verwandter und geliebter Personen geklöppelt. Später war die Darstellung einer Friedhofsszene beliebt. Der Grabstein war mit der Inschrift versehen, um den Anlass nicht zu vergessen und die Darstellung der Trauerweide drückte über den Namen die Gefühle der Trauernden aus.
Zwei Kastenbilder mit Haaren verschiedener Personen wurden dem Altertumsverein 1851 e.V. überlassen. Die Sträußchen bestanden aus Haaren des Ochsenwirts David Miller und seiner Frau Maria Anna und den ebenfalls verstorbenen Söhnen Karl und Anton.
Viel Geld kosteten damals im 19. Jahrhundert Eingerichte, die an geliebte verstorbene Personen erinnerten. Ein kunstvolles Gebilde aus Wachs, Golddrähten, Bändern und religiösen Szenen schmückten die Aufbauten. Dafür wurden, wo es angebracht war, Haare der verstorbenen Angehörigen verwendet. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erweiterte eine Fotografie das Gedenken. Zum Schutz vor Schmutz wurde ein Glasdom darüber gestülpt, so wurde das volkstümliche Kunstwerk zum Eingericht.
Anlässe für Haarschmuck waren nicht grundsätzlich an Trauerfälle gebunden. Auch zu Hochzeiten konnten
Haare der Braut an das Ereignis erinnern, garniert mit Myrthen-Sträußchen und verziert mit glitzerndem Zierrat. Wallfahrtsandenken gehobener Ansprüche stellten heilige Männer oder meist Frauen dar, deren Umgebung ebenfalls mit Haaren gestaltet sein konnte.
Ende des 19. Jahrhunderts erlosch diese Art der Erinnerungskultur. Die Fotografie und andere Techniken ersetzten die Tradition der Haarkunst. Damit verloren die Frisöre als hauptsächliche Vertreter dieses Genre eine wichtige Einnahmequelle. Dass sie sich damals „Haarkünstler“nannten oder so genannt wurden, ist vollauf berechtigt; denn es war eine wahre Kunst, diese Gebilde herzustellen. Vereinzelt wird die Herstellung von Haarschmuck als Kunsthandwerk heute noch gepflegt und bestaunt.
Literatur zum Thema Haarkunst ist rar. Dr. Nina Gockerell vom Bayerischen Nationalmuseum sammelte die wenigen Publikationen aus dem 19. Jahrhundert, zum Beispiel von Wilhelm Braunsdorf. Er schrieb in seinem 1892 in Wien erschienenen Buch: „Die Herstellung künstlicher Blumen aus Blech ist eine Kunst, die ungemein große Sorgfalt erfordert, und setzt bei der Blumenkünstlerin eine scharfe Intelligenz und Geschicklichkeit und viel Geduld voraus.“Danach muss man Menschenhaare zuerst sorgfältig auskämmen, reinigen, mit Mehl abreiben und dann mehrmals in Sodawasser waschen, um sie zu entfetten und locker zu machen. Um eine noch größere Elastizität und einen schönen Glanz zu erhalten, siedet man sie in mit Holzasche gesättigtem Wasser. Nach dem Trocknen werden sie mit Hilfe feiner Bürsten gleichmäßig geglättet und in kleinen Partien sorgfältig zusammengebunden, um Verwicklungen zu vermeiden.
Die Schilderung eines Fertigungsvorgangs bei Braunsdorf lässt sich kaum nachvollziehen: „Man befestigt zwei kleine Drahtfäden, von denen jeder besonders auf ein Holzstäbchen gewunden ist, mit Seide an eine ungefähr aus 12 bis 14 Haaren bestehende Flechte, nimmt ein beliebig langes, aber 1 bis 1½/ Centimeter breites Fischbeinstäbchen in die linke Hand und zugleich den mit Drähten verbundenen Haarsträhnen, wickelt diesen mit der rechten Hand um das Fischbeinstäbchen und befestigt jede Schleife, indem man einen Draht über und einen andern unter die Haarflechte leitet.“Da bleibt dem Laien nur noch staunendes Bewundern.
Noch bis zum 1. Advent sind im Museum „Schöne Stiege“100 kostbare Eingerichte, Kastenbilder und Geduldsflaschen, allesamt volkstümliche Kunstwerke, zu bestaunen.