Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Nachts träume ich, dass ich Ware verkaufe“
Messen und Weihnachtsmärkte wegen Corona abgesagt: Das beschäftigt die hiesigen Händler
MACHTOLSHEIM/WIESENSTEIG/ REGION - Jeder, der einmal auf einem der großen deutschen Weihnachtsmärkte unterwegs war, ist garantiert schon am Stand von Cesar de Freitas vorbeiflaniert oder hat gar ein ganz individuelles Weihnachtsgeschenk für einen lieben Menschen gekauft: Hochwertige Glasartikel mit persönlicher Gravur. Sei es eine hübsche Vase, das Glas für die ganz speziell bevorzugte Biersorte, Wein- oder Sektgläser von namhaften Glasherstellern oder hübsche Geschenkartikel, mit einer Gravur veredelt. Seit 30 Jahren ist de Freitas etwa auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt, vor rund 25 Jahren war er erstmals in Ulm mit seiner Gravurhütte. Vor den Augen der Marktbesucher gravieren de Freitas und seine tschechischen Berufskollegen die Glasartikel. Sein Geschäftsmodell basiert zu 80 Prozent auf den acht Weihnachtsmärkten, auf denen er seit bald 50 Jahren immer zur Adventszeit anzutreffen ist. Doch dieses Jahr, im Corona-Jahr, ist alles anders: Die Weihnachtsmärkte Mainz, Leipzig, Frankfurt, Würzburg, Heilbronn, Reutlingen, Stuttgart und Ulm sind abgesagt. Lediglich die Stadt Ulm bietet den Händlern eine Onlineplattform.
Unter „Ulmer Weihnachtsmarkt“ist ein virtueller Bummel durch die Onlineshops der langjährigen Markthändler möglich. Eine Alternative, die de Freitas schon seit einigen Jahren anbietet. Unter „Wiesensteiger Glaswerkstätte“können die beliebten Glasartikel, aber auch kleine Porzellanartikel und Geschenkideen mit individueller Gravur erworben werden. Bislang machte das Onlinegeschäft gerade einmal 20 Prozent des Jahresumsatzes aus. Nachdem das Hauptgeschäft, die Weihnachtsmärkte, heuer ausfällt, setzt de Freitas auf seinen Onlineshop. An der Bundesstraße 10 in Kuchen hat er als Werbung dafür einen Stand aufgebaut.
Die Historie seines Unternehmens geht bis in die späten 60er-Jahre zurück, als de Freitas bei WMF in Geislingen eine Ausbildung zum Glasgraveur absolvierte. 1981 gründete er in Wiesensteig sein Unternehmen „Wiesensteiger Glaswerkstätte“mit einer Glaswerkstatt und Schauglashütte. Auf 400 Quadratmetern Ausstellungsfläche präsentierte er seine Produkte und Glasbläser und Graveure ließen sich über die
Schultern blicken. Zehn Jahre später verlegte er seine Tätigkeit auf Messen und eine jährliche Teilnahme auf bis zu zehn Weihnachtsmärkten bundesweit. Die Werkstätte selbst ist mittlerweile in Kuchen beheimatet, de Freitas beschäftigt drei feste Mitarbeiter. Auf die Weihnachtsmärkte holt er sich für den Verkauf Saisonarbeiter aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe sowie Glasgraveure aus Tschechien. Nahezu immer dieselben Leute, mit denen er die ganze Zeit über eng zusammenarbeitet. Auch sie stehen heuer aufgrund der Absagen ohne Job da.
De Freitas ist alles andere als glücklich mit dem Marktmanagement der Städte in dieser CoronaPandemie. Seiner Meinung nach sind die Weihnachtsmärkte hauptsächlich deshalb abgesagt worden, weil beim Genuss der Speisen und vor allem der alkoholischen Getränke befürchtet wird, dass die Abstände und Hygieneregeln nicht eingehalten werden können. „Wir anderen Markthändler sind überzeugt, dass eine Entzerrung auf den Märkten stattfinden könnte, wenn auf Verpflegungsstände verzichtet wird.“Denn Massenansammlungen gäbe es erfahrungsgemäß doch nur eben dort. „Diese Händler würden weniger leiden, haben sie doch unterm Jahr andere Verkaufsmöglichkeiten, wir dagegen nicht.“
Ähnlich unglücklich damit, welcher Markt abgesagt wird, welcher nicht, ist außerdem Marcel Peterseim aus Machtolsheim. Unverständnis macht sich in seinem Berufsstand breit, weil es keine landesoder bundesweit einheitliche Regelung gibt, sondern die Kommunen eigenständig entscheiden, ob sie den Markt absagen. Mit seinen Strickwaren ist Peterseim seit
30 Jahren deutschlandweit unterwegs. In guten Zeiten verkaufte er auf bis zu 120 Märkten im Jahr, teilweise auch auf kleineren Weihnachtsmärkten, die maximal drei Tage dauern. „Nun werden kleine Märkte mit vielleicht zehn Ständen abgesagt, große, wie etwa der in Reutlingen, finden dagegen statt.“Es sei quasi ein Lotteriespiel,
ob die Märkte, wo man Stammhändler ist, abgesagt werden oder nicht.
Sein Berufsstand könne sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Kommunen es sich schlicht zu einfach machen und kein aufwändiges Hygienekonzept erstellen wollen: „Auf unsere Kosten“, kritisiert Peterseim, „die Wochenmärkte dagegen finden nämlich statt.“2020 schrumpften seine Marktaktivitäten auf gerade einmal acht zusammen. Dort, wo er und seine Händlerkollegen verkauften, trafen sie auf glückliche Menschen. Dass die Kundschaft mit ihnen leidet, zeigten auch kleine Situationen, wie etwa die, als ein Vater für sein Kleinkind Handschuhe kaufte. Er drückte dem Kind einen Geldschein in die Hand: „Sag dem Herrn, das stimmt so, die können das gebrauchen.“Das habe ihn sehr gerührt, sagt Peterseim. Für den Vollblutmarkthändler ist derweil nicht nur die finanzielle Situation fatal, sondern unter diesem QuasiBerufsverbot leide er psychisch. Der Job versetze einen in Daueranspannung: Ist der Standplatz zugeparkt, macht das Wetter nicht mit – jetzt ist das komplett heruntergefahren. „Nachts träume ich, dass ich Ware verkaufe“, erzählt er.
„Wir anderen Markthändler sind überzeugt, dass eine Entzerrung auf den Märkten stattfinden könnte, wenn auf Verpflegungsstände verzichtet wird.“Cesar de Freitas