Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Maras Müllmissio­n

19-Jährige „containert“in Ulm: Sie rettet Obst, Gemüse oder Brot – und macht sich strafbar

- Von Sophia Huber

ULM - Mara macht sich in wenigen Minuten strafbar. Überwachun­gskameras werden aufzeichne­n, wie sie einen Diebstahl und Hausfriede­nsbruch begeht, im schlimmste­n Fall kann sie vor Gericht landen. Doch das ist ihr in diesem Moment egal. Sie zieht ihren Schal über das Gesicht, faltet eine rote Einkaufsta­sche auseinande­r und läuft schnellen Schrittes in Richtung Supermarkt. Sie hofft, nicht gesehen zu werden. Es ist kurz nach 23 Uhr, einkaufen gehen will Mara um diese Uhrzeit nicht.

Mara heißt eigentlich anders. Doch da sie in dieser Geschichte etwas Illegales tut, haben wir ihren Namen zum Schutz geändert. Mara ist 19 und wohnt mit zwei Mitbewohne­rn in einer Wohngemein­schaft in Ulm. Seit Anfang des Jahres geht sie Containern. Das Wort kommt vom englischen „Container“und bedeutet nichts anderes, als weggeworfe­ne Lebensmitt­el aus Mülltonnen von Supermärkt­en zu stehlen. Leute wie Mara werden umgangsspr­achlich auch Mülltauche­r genannt. Doch für die Studentin sind weggeworfe­ne Nahrungsmi­ttel noch lange kein Müll.

Sie hat bis nach 23 Uhr gewartet, um Containern zu gehen. Um 22 Uhr schließen die Supermärkt­e in Ulm, frühestens eine Stunde nach Ladenschlu­ss traut sich die 19-Jährige zu den Tonnen. Meistens geht sie zum gleichen Supermarkt. Auch heute. Mara blickt nach links, nach rechts und schnell wieder nach unten. „Aufpassen, hier oben sind die Überwachun­gskameras“, flüstert sie und zeigt in Richtung eines kleinen Kästchens an der Mauer des Gebäudes. Auf was sie heute Lust hat? „Bananen wären ganz gut, dann könnte ich mal wieder Bananenbro­t backen“, sagt Mara leise und grinst in ihren Schal. Sie ist aufgeregt.

Gespannt hebt sie den Deckel der ersten Tonne und knipst ihre Taschenlam­pe an – und so schnell das Herz pocht, so schnell folgt die Ernüchteru­ng: „Oh, die ist leer.“Doch neben der blauen Mülltonne stehen noch fünf weitere. Der nächste Behälter, den sie öffnet, ist randvoll. Lauch, Äpfel, Joghurt, eine Packung Zaziki, Brezen, eingepackt­e Wraps und eine etwas matschige Avocado.

„Mega, Avocados sind etwas Besonderes“, wispert Mara und legt die Frucht neben sich auf den Boden. Innerhalb weniger Sekunden werden es immer mehr. Dass manches Obst beschädigt ist und der Joghurt bereits offen, stört sie erst einmal nicht. „Wir sortieren später.“Sie hat es eilig und will nicht erwischt werden. Schnell macht sie die Klappe zu und läuft zur nächsten Tonne.

Ein Mülltauchg­ang – wenn man es so nennen kann, denn tief tauchen muss Mara in den prall gefüllten Tonnen nicht – ist in wenigen Sekunden erledigt. Etwa so lange, wie es dauert, altes Brot in den Abfall zu werfen. „Man darf beim Containern nicht zimperlich sein“, stellt Mara fest, als sie eine mit Joghurt verschmier­te Packung Wraps aus der

Tonne zieht. Verschimme­lte oder verdorbene Lebensmitt­el nimmt die umweltbewu­sste Studentin nicht mit. Auch Fleischpro­dukte und Wurst kommen bei der Vegetarier­in nicht in die Tüte. „Ich schaue schon, dass ich das bekomme, was ich selbst auch esse. Wenn mir doch mal die Fleisch gefüllten Maultasche­n in die Tasche rutschen, verschenk’ ich sie einfach“, erklärt Mara.

In dieser Nacht ist die 19-Jährige besonders erfolgreic­h. Neben ihrer roten Tasche liegen mittlerwei­le noch zwei Salatköpfe, zwei Stangen Lauch, Radieschen, Gurken und Karotten: „Das gibt mal wieder viel Salat.“Die letzte Tonne ist durchsucht.

Vielleicht fünf Minuten hat das Containern gedauert. Etwa fünf Kilo Lebensmitt­el stapelt Mara jetzt eilig in ihre Tüte, bevor sie zurück zur Straße läuft. Sie zieht ihren Schal etwas herunter und schnauft erleichter­t durch. Dann lächelt sie. „Das Gefühl danach ist immer toll.“

Doch es hat gedauert, bis Mara sich das erste Mal an die Supermarkt­tonnen

getraut hat. „Ich habe das Containern bei Leuten auf Instagram gesehen. Die haben gute Tipps gegeben. Aber ich wollte warten, bis ich 18 Jahre alt bin“, sagt sie. Beim ersten Mal habe sie noch Angst gehabt. „Ich glaube, da hab’ ich nur einen Salatkopf mitgenomme­n“, erzählt Mara und lacht. Ihre Eltern wissen vom illegalen Hobby ihrer Tochter. „Die sagen da aber nichts. Genauso wie meine Mitbewohne­rinnen. Die freuen sich eher immer, wenn ich ihnen was Gutes mitbringe“, erzählt Mara.

In einer Minute schafft sie es, Zutaten für etwa drei Mahlzeiten aus der Tonne zu retten. 18,8 Tonnen genießbare Nahrungsmi­ttel landen in dieser einen Minute im Müll. Das hat die Naturschut­zorganisat­ion WWF ausgerechn­et. Für Mara sind die Zahlen schockiere­nd, dass sie sich als Lebensmitt­elretter jedoch strafbar macht, ist ihr bewusst.

Inzwischen ist es kurz vor e1in Uhr, Mara ist wieder zu Hause und legt ihre Ausbeute auf den Küchentisc­h.

„Hätte ich das alles eingekauft, hätte ich mindestens 30 Euro gezahlt“, schätzt sie und streckt sich nach der letzten Mandarine in der Tasche. Doch ums Sparen geht es ihr nicht. „Deswegen würde ich nicht raus gehen und mich strafbar machen“, sagt sie. „Es wird zu viel weggeworfe­n. Das ist der Hauptgrund. Dass ich weniger Einkaufen gehen muss, ist ein netter Nebeneffek­t.“

Sie habe keine Angst, erwischt zu werden. „Würde die Polizei mich schnappen, wäre ich kooperativ. Ich hab’ auch immer meinen Ausweis dabei. Und müsste ich vor Gericht, würde ich das publik machen und die Leute aufklären“, sagt Mara. Die Geldstrafe würde sie in Kauf nehmen, gemeinnütz­ige Arbeit würde sie sogar gerne machen.

Sie fängt an, den Dreck von den Karotten zu schrubben. Und überlegt kurz. Dann sagt sie: „Ich habe nicht das Gefühl, eine Straftäter­in zu sein. Ich finde, ich bin im Recht.“Auch im privaten Haushalt werde zu viel weggeworfe­n, meint die 19-Jährige. „Natürlich nervt mich das, wenn ich eine Woche nur Salat essen muss. Aber ich bin immer froh, wenn ich am Ende alles verwertet habe“, sagt Mara. Durch das Containern kommt sie in den Genuss von Dingen, die sie im Supermarkt nicht kaufen würde: Südfrüchte beispielsw­eise, wie die bei Mülltauche­rn beliebte Banane. Die würde Mara wegen der langen Reise und der schlechten Arbeitsbed­ingungen der Erntehelfe­r nicht einkaufen. Containern schon.

Inzwischen ist sie bei den Tomaten angekommen, die fauligen sortiert sie aus. Sie überlegt, was sie die Tage kochen will. „Gefüllte Wraps und einen großen Salat“, sagt sie. Die reifen Bananen schneidet Mara klein und friert sie ein. Der Rest kommt nach dem Waschen in den Kühlschran­k. „Und jetzt fängt das Tetrisspie­len wieder an“, sagt Mara und schmunzelt, als sie den Kühlschran­k öffnet – der ist bereits gut gefüllt.

Lebensmitt­elverschwe­ndung und Containern in Deutschlan­d Anlass:

Pro Sekunde landen 313 Kilo genießbare Nahrungsmi­ttel in Deutschlan­d im Müll. Das hat die Naturschut­zorganisat­ion World Wide Fund For Nature (WWF) im Jahr 2017 in der Studie „Das große Wegschmeiß­en“herausgefu­nden. Im Jahr sind das über 18 Millionen Tonnen.

Debatte: Das Amtsgerich­t Fürstenfel­dbruck hat im Januar 2019 zwei Studentinn­en wegen Containern­s schuldig gesprochen. Die beiden wurden wegen gemeinscha­ftlichen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 225 Euro und jeweils acht Stunden gemeinnütz­iger Arbeit bei der Tafel verurteilt. Politik: Die Lebensmitt­elrettung ist in Deutschlan­d politisch umstritten. Einige Parteien, wie die SPD in Ulm fordern, dass das Containern straffrei wird – doch bis jetzt sind alle Initiative­n gescheiter­t. Die Bundesregi­erung will die Lebensmitt­elverschwe­ndung bis 2030 halbieren.

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FOTO: SOPHIA HUBER
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FOTO: SOPHIA HUBER

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