Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wann ist ein Gemälde fertig?
die Mahnung ist eindeutig, dass wir wachsam sein sollen. Heißt das nun, dass wir nur noch mit offenen Augen schlafen dürfen? Das wäre ja eine große Kunst. Aber sind wir nicht alle in gewisser Weise Lebenskünstler? Es gehört schon viel dazu, jeden Morgen rechtzeitig herauszukommen und wach und voller Aufmerksamkeit den Tag zu bestehen.
Ein so genannter Alltag ist wie ein Gemälde, das wir beginnen. Und wann ist dieses Gemälde fertig? Am Ende des Tages – wirklich? Wir nehmen den Tag mit in die Nacht und der nächste Tag bestimmt sich vom Vorabend her. Also nochmals: Wann ist das Gemälde fertig?
Der bekannte Maler Sieger Köder war zu Gast in meiner vorherigen Gemeinde in Schwäbisch Hall. Er hat einen Abend zu seinen Werken gestaltet. Ich saß neben ihm und habe ihn gefragt: „Wann sind Sie eigentlich fertig mit einem Bild?“Er antwortete: „Eigentlich nie! Ich entdecke immer wieder Details, die ich dann verändere. Bloß zu einem bestimmten Zeitpunkt holt dann der Auftraggeber sein Bild ab – und spätestens dann muss es fertig sein oder ich muss es fertig sein lassen.“Damit ist bei ihm das Gemälde fertig, wenn die Zeit abgelaufen ist. Einer Künstlerin in Schwäbisch Hall habe ich die gleiche Frage gestellt. Monika Sigloch antwortete – und das zeigt vielleicht die Souveränität einer Frau: „Das entscheidet mein Bauchgefühl, ob ein Bild fertig ist. Ich fange das Bild an und weiß nicht im Voraus, wie es insgesamt werden wird. Und irgendwann ist das Bild soweit, dass ich spüre und mir sage: Stopp, jetzt darf ich nicht mehr weitermachen. Dann ist für mich das Bild fertig.“Also bei Monika Sigloch ist es das künstlerische Bauchgefühl, das über die Fertigstellung entscheidet.
Ein anderer, von mir sehr geschätzter Künstler in einem Ortsteil von Michelfeld, Siegmund Piontek, hat mir die Frage folgendermaßen beantwortet: „Wenn ich gefragt werde, ob das
Bild fertig sei, stelle ich die Gegenfrage: Gefällt es ihnen jetzt? Sagt der dann ja, dann ist es fertig.“
Liebe Mitchristen, welchem Künstler würden Sie den Auftrag für ein Bild geben? Oder andersherum gefragt: Was meinen Sie, zu welcher Art Künstler der Herrgott zählt bei der Frage: „Wann ist die Welt fertig?“Sie ist als wunderbares Gemälde aus seiner Schöpferhand sehr gut hervorgegangen.
Heute, am 1. Advent, eröffnet sich ein neues Kirchenjahr. Beim Ablauf der Jahre stellt sich die Frage: Wann ist die Welt endgültig fertig? Nach der Auskunft Jesu weiß den Zeitpunkt nur der Vater im Himmel.
Diese Auskunft Jesu ist aber verbunden mit der weiteren Ankündigung eines tatsächlichen Endes. Vielleicht kommt ein neues Wort in Mode, das wir schon Mitte März kennengelernt haben: „Lockdown“.
Es gibt für die Weltgeschichte den endgültigen Lockdown – nach der Auskunft des Evangeliums. Jeder muss zu Hause bleiben und warten und erwarten, denjenigen, den wir begrüßen mit „Hosanna, hochgelobt sei der, der da kommt im Namen des Herrn“(vgl. Mk 11,9).
Wenn wir uns an den Prolog des Johannesevangeliums erinnern, heißt es da: „Er kam in sein Eigentum“(Joh 1,11). So wird es sein nach dem Gleichnis Jesu: Der Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen, kommt zurück in sein Eigentum als Hausherr der ganzen Erde (vgl. Mt 25,19). Dann ist die Zeit abgelaufen und wir können nicht mehr weitermachen wie seither. Wir können nicht weiterhin noch etwas verändern.
Das Gemälde unserer
Lebenstage ist dann fertig, wir müssen es abgeben.
Und dann kommt es auf die Übereinstimmung an, auf die Übereinstimmung des Wohlgefallens. Der Herr wird hoffentlich sagen können: „Mensch, du gefällst mir!“Dieses Gefallen kommt von Jesus her, der uns sein Wort gegeben hat. Haben wir unser Leben nach den Worten Jesu gestaltet, wird es Gott gefallen und er nimmt uns zu sich. Dieses Wohlgefallen erreichen wir durch beständige Wachsamkeit, indem wir die Worte Jesu beachten und beobachten und dann werden wir erkennen, intuitiv wahrnehmen, was kommt und dass es kommt und dass sie kommt: die Vollendung der Welt durch einen absoluten Lockdown. Der Zeitpunkt dafür kommt aus dem Schoß des Vaters im Himmel.
Ich kenne ein Kreuz, bei dem der Korpus des Christus so geschnitzt und geformt ist, dass Brust und Bauch aussehen wie ein Gesicht. So wie Jesus sagt: „Wer mich sieht, sieht den Vater“(Joh 14,9).
Am Anfang unseres heutigen Evangeliums legt uns Jesus den Vergleich mit dem Feigenbaum nahe. Wer ihn beobachtet, weiß, wann der Sommer nahe ist. Nicht zufällig nimmt Jesus einen Baum zum Vergleich seiner Ermahnung. Er selbst ist auf den Baum des Lebens hinaufgestiegen, denn er hat durch seine Kreuzigung den Marterpfahl zum Baum des Lebens gemacht. Sein letztes Wort war: „Es ist vollbracht!“(Joh 19,30).
Martin Luther sagt: „Glaube ist ein unverwandter Blick auf Christus.“Wir ergänzen: auf den Christus am Kreuz. Wer ihn ständig in die Augen und in den Sinn aufnimmt, spürt, wann das Ende nahe ist. Und das ist unsere Wachsamkeit, den Baum des Lebens zu beobachten alle Tage unseres Lebens. Wenn der Christus, unser Heiland, dann plötzlich kommt, sind wir hellwach.
Amen.