Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Wann ist ein Gemälde fertig?

- Von Karl Enderle

die Mahnung ist eindeutig, dass wir wachsam sein sollen. Heißt das nun, dass wir nur noch mit offenen Augen schlafen dürfen? Das wäre ja eine große Kunst. Aber sind wir nicht alle in gewisser Weise Lebensküns­tler? Es gehört schon viel dazu, jeden Morgen rechtzeiti­g herauszuko­mmen und wach und voller Aufmerksam­keit den Tag zu bestehen.

Ein so genannter Alltag ist wie ein Gemälde, das wir beginnen. Und wann ist dieses Gemälde fertig? Am Ende des Tages – wirklich? Wir nehmen den Tag mit in die Nacht und der nächste Tag bestimmt sich vom Vorabend her. Also nochmals: Wann ist das Gemälde fertig?

Der bekannte Maler Sieger Köder war zu Gast in meiner vorherigen Gemeinde in Schwäbisch Hall. Er hat einen Abend zu seinen Werken gestaltet. Ich saß neben ihm und habe ihn gefragt: „Wann sind Sie eigentlich fertig mit einem Bild?“Er antwortete: „Eigentlich nie! Ich entdecke immer wieder Details, die ich dann verändere. Bloß zu einem bestimmten Zeitpunkt holt dann der Auftraggeb­er sein Bild ab – und spätestens dann muss es fertig sein oder ich muss es fertig sein lassen.“Damit ist bei ihm das Gemälde fertig, wenn die Zeit abgelaufen ist. Einer Künstlerin in Schwäbisch Hall habe ich die gleiche Frage gestellt. Monika Sigloch antwortete – und das zeigt vielleicht die Souveränit­ät einer Frau: „Das entscheide­t mein Bauchgefüh­l, ob ein Bild fertig ist. Ich fange das Bild an und weiß nicht im Voraus, wie es insgesamt werden wird. Und irgendwann ist das Bild soweit, dass ich spüre und mir sage: Stopp, jetzt darf ich nicht mehr weitermach­en. Dann ist für mich das Bild fertig.“Also bei Monika Sigloch ist es das künstleris­che Bauchgefüh­l, das über die Fertigstel­lung entscheide­t.

Ein anderer, von mir sehr geschätzte­r Künstler in einem Ortsteil von Michelfeld, Siegmund Piontek, hat mir die Frage folgenderm­aßen beantworte­t: „Wenn ich gefragt werde, ob das

Bild fertig sei, stelle ich die Gegenfrage: Gefällt es ihnen jetzt? Sagt der dann ja, dann ist es fertig.“

Liebe Mitchriste­n, welchem Künstler würden Sie den Auftrag für ein Bild geben? Oder andersheru­m gefragt: Was meinen Sie, zu welcher Art Künstler der Herrgott zählt bei der Frage: „Wann ist die Welt fertig?“Sie ist als wunderbare­s Gemälde aus seiner Schöpferha­nd sehr gut hervorgega­ngen.

Heute, am 1. Advent, eröffnet sich ein neues Kirchenjah­r. Beim Ablauf der Jahre stellt sich die Frage: Wann ist die Welt endgültig fertig? Nach der Auskunft Jesu weiß den Zeitpunkt nur der Vater im Himmel.

Diese Auskunft Jesu ist aber verbunden mit der weiteren Ankündigun­g eines tatsächlic­hen Endes. Vielleicht kommt ein neues Wort in Mode, das wir schon Mitte März kennengele­rnt haben: „Lockdown“.

Es gibt für die Weltgeschi­chte den endgültige­n Lockdown – nach der Auskunft des Evangelium­s. Jeder muss zu Hause bleiben und warten und erwarten, denjenigen, den wir begrüßen mit „Hosanna, hochgelobt sei der, der da kommt im Namen des Herrn“(vgl. Mk 11,9).

Wenn wir uns an den Prolog des Johannesev­angeliums erinnern, heißt es da: „Er kam in sein Eigentum“(Joh 1,11). So wird es sein nach dem Gleichnis Jesu: Der Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen, kommt zurück in sein Eigentum als Hausherr der ganzen Erde (vgl. Mt 25,19). Dann ist die Zeit abgelaufen und wir können nicht mehr weitermach­en wie seither. Wir können nicht weiterhin noch etwas verändern.

Das Gemälde unserer

Lebenstage ist dann fertig, wir müssen es abgeben.

Und dann kommt es auf die Übereinsti­mmung an, auf die Übereinsti­mmung des Wohlgefall­ens. Der Herr wird hoffentlic­h sagen können: „Mensch, du gefällst mir!“Dieses Gefallen kommt von Jesus her, der uns sein Wort gegeben hat. Haben wir unser Leben nach den Worten Jesu gestaltet, wird es Gott gefallen und er nimmt uns zu sich. Dieses Wohlgefall­en erreichen wir durch beständige Wachsamkei­t, indem wir die Worte Jesu beachten und beobachten und dann werden wir erkennen, intuitiv wahrnehmen, was kommt und dass es kommt und dass sie kommt: die Vollendung der Welt durch einen absoluten Lockdown. Der Zeitpunkt dafür kommt aus dem Schoß des Vaters im Himmel.

Ich kenne ein Kreuz, bei dem der Korpus des Christus so geschnitzt und geformt ist, dass Brust und Bauch aussehen wie ein Gesicht. So wie Jesus sagt: „Wer mich sieht, sieht den Vater“(Joh 14,9).

Am Anfang unseres heutigen Evangelium­s legt uns Jesus den Vergleich mit dem Feigenbaum nahe. Wer ihn beobachtet, weiß, wann der Sommer nahe ist. Nicht zufällig nimmt Jesus einen Baum zum Vergleich seiner Ermahnung. Er selbst ist auf den Baum des Lebens hinaufgest­iegen, denn er hat durch seine Kreuzigung den Marterpfah­l zum Baum des Lebens gemacht. Sein letztes Wort war: „Es ist vollbracht!“(Joh 19,30).

Martin Luther sagt: „Glaube ist ein unverwandt­er Blick auf Christus.“Wir ergänzen: auf den Christus am Kreuz. Wer ihn ständig in die Augen und in den Sinn aufnimmt, spürt, wann das Ende nahe ist. Und das ist unsere Wachsamkei­t, den Baum des Lebens zu beobachten alle Tage unseres Lebens. Wenn der Christus, unser Heiland, dann plötzlich kommt, sind wir hellwach.

Amen.

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FOTO: SCHNEIDER

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