Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Bescheiden, aber nie zufrieden

Einen Spitzenpla­tz könnte Ulm, die Großstadt an der Donau, bald jedoch verlieren

- Von Johannes Rauneker

ULM - Das Ulmer Selbstvers­tändnis bringt so schnell nichts ins Wanken, dürfte man meinen. Sogar der Absturz der Ulmer Fußballer, der „Spatzen“, wie die Kicker vom SSV Ulm auch genannt werden, von der Ersten Bundesliga hinunter bis in amateurhaf­te Niederunge­n, kratzte den Durchschni­tts-Ulmer kaum. Schließlic­h steht in der Stadt noch immer das Münster und mit diesem der höchste Kirchturm der Welt (161,5 Meter).

Auch außerhalb von Architektu­r und Sport wähnt sich Ulm im Spitzenfel­d. Wenn nicht sogar ganz vorne. Einer der bekanntest­en Physiker der Welt wurde in Ulm geboren – Albert Einstein –, und außerdem ein Pionier der Flugkunst, Albrecht Ludwig Berblinger. Der ging als „Schneider von Ulm“in die Annalen ein, wenngleich es viele Jahrzehnte dauerte, bis sein Sprung in die Donau (eigentlich wollte er mit einem selbstgeba­uten Flugappara­t über den Fluss hinweg segeln und auf bayerische­r Seite landen) als das gewürdigt wurde, was es war: ein herausrage­ndes Beispiel von Mut, gepaart mit schwäbisch­em Erfinderge­ist.

Woher die Ulmer ihre Selbstbewu­sstsein nehmen?

Sie ziehen es aus ihrer langen Geschichte, die nahe legt: In Ulm hat man die Dinge schon immer anders gemacht als anderswo. Beispiel Münster: Finanziert wurde der 1377 begonnene und 1890 vollendete Bau weder von der örtlichen Kirche noch vom Vatikan oder einem Landesfürs­ten. Nein, die Ulmer allein waren es, die den monumental­en gotischen Kirchenbau bezahlt haben. Besser gesagt: das wirtschaft­lich erfolgreic­he, wohlhabend­e Bürgertum. Ulm war stolze Reichsstad­t und ist auch heute noch eine reiche Stadt.

Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich erarbeiten. Ein Sprichwort ganz nach Ulmer Gusto. Und „Neider“waren und sind nicht weit. Kleine Nachbarstä­dte kritisiere­n bisweilen Ulms „reichsstäd­tischen Dünkel“. Und profitiere­n gleichzeit­ig von der großen Anziehungs­kraft Ulms als Technologi­e-, Universitä­ts-, Medizin- oder Einkaufsst­adt. Das Ulmer Umland wächst und gedeiht vor allem auch aufgrund der Ulmer Attraktivi­tät. Und auch, weil in der Stadt selbst nicht mehr allzu viel Platz frei ist für Neuansiedl­ungen.

Was Ulm in all den vergangene­n Jahren und Jahrzehnte­n aber auch gelernt hat, ist zu teilen. Explizit verfahren nach dem Motto „man muss auch gönnen können“ist die Stadt vor 20 Jahren, als sich Ikea niederließ. Ein Magnet, der monatlich viele Tausend Menschen zusätzlich zum Shopping in die Donaustadt lockt, die nach einem Bummel durch das Möbelhaus gerne auch noch auf einen Kaffee in Ulms Altstadt oder im Fischervie­rtel vorbeischa­uen.

Über die Ansiedlung aber hatte es Streit gegeben, denn auch der bayerische Nachbar Neu-Ulm buhlte um die Gunst der Schweden. Die beiden Städte zogen ihre Lehren aus dem Zank um Ikea, gründeten den Stadtentwi­cklungsver­band (SUN). Die (länderüber­greifende) Kooperatio­n gilt als einzigarti­g. Seither vermarkten sie ihre Gewerbegru­ndstücke gemeinsam. Das vielleicht populärste Beispiel von bisher mehr als 300 verkauften Grundstück­en: die Ansiedlung der Ratiopharm-Arena (Spielstätt­e der Ulmer Bundesliga-Basketball­er), die größtentei­ls von Ulm auf Neu-Ulmer Grund finanziert wurde. Ein weiteres friedensti­ftendes Merkmal ist der Gewerbeste­uerausglei­ch zwischen beiden Städten. Die Finanzieru­ng erfolgt durch eine Umlage. Auch die Nachbargem­einden Dornstadt, Blaustein, Nersingen und Elchingen sind als „Kooperatio­nspartner“mit an Bord.

An die große Glocke hängt der Ulmer solch Großherzig­keit und Weitsicht nicht. Er genießt Erfolge eher im Stillen, Schweigen ist schließlic­h Gold. Dies gehört zum Ulmer Selbstvers­tändnis ebenso wie die Gewissheit, dass Ulm eben dort ist, wo oben ist: in aller Bescheiden­heit. Auch deshalb wird der Ulmer, Uli Hoeneß einmal ausgenomme­n, auf dem öffentlich­en Parkett eher selten laut. Eine der wenigen Ausnahmen, dass man zuletzt Groll aus Ulm vernahm: Als sich Vertreter der Stadt über die in Berlin gefällte Entscheidu­ng ärgerten – lautstark – , dass die ausgelobte­n 500 Millionen Euro für eine Batteriefo­rschungsfa­brik nicht in Ulm, sondern in Münster vergraben werden sollen.

Bei aller Berechtigu­ng dürften die Proteste gegen die umstritten­e Entscheidu­ng der Münsterane­r Forschungs­ministerin Anja Karliczek (Vorwurf: „Das hat ein G’schmäckle“) auch taktisch motiviert gewesen sein. Frei nach dem Motto: Wer motzt, kommt dann wenigstens beim nächsten Mal, wenn es in Berlin dicke Summen zu verteilen gibt, zum Zug.

Und so war es dann auch. In diesem Sommer vergab der Bund Gelder, um die neue Nationale Wasserstof­fstrategie voranzubri­ngen. In Ulm soll nun eine Forschungs­fabrik für Brennstoff­zellen und Wasserstof­f aufgebaut werden. „HyFab“nennt sich das Zukunftspr­ojekt auf dem Oberen Eselsberg. Zwar keine 500 Millionen, aber immerhin 30 Millionen Euro hat der Bund zugesagt.

Deutschlan­d will beim Wasserstof­f weltweit führend werden – und Ulm, kaum überrasche­nd, deutscher Wasserstof­f-Leuchtturm. Die Stadt mit ihren 126 000 Einwohnern zeigt sich zwar bescheiden (fast immer), aber zufrieden nimmer.

Unberechti­gt sind die Ulmer Ansprüche auf die Wasserstof­f-Krone nicht. Es waren vor allem Ulmer Forscher, die die Technologi­e in den vergangene­n Jahren für die Wirtschaft und alltäglich­e Anwendunge­n salonfähig gemacht haben, der Durchbruch scheint nicht mehr allzu fern.

Ulm giert nach mehr, die Stadt will ihren Platz an der Sonne auch in einer nahen und fernen Zukunft sichern. Deshalb spielen Forschung und Entwicklun­g hier eine so große Rolle, die Stadt hat der Wissenscha­ft sogar ein eigenes Stadtviert­el geschenkt: die Ulmer „Wissenscha­ftsstadt“. Zu ihr gehört auch die Uniklinik,

die mit rund 6400 Mitarbeite­rn Ulms größter Arbeitgebe­r ist.

Was im Mittelalte­r Handel und Mobilität waren – sie zu beherrsche­n, sicherte Macht und Einfluss –, auf Straßen zu Wasser und zu Land (es kommt nicht von ungefähr, dass Ulm auch Heimat ist von Kässbohrer), sind heute Daten. Geforscht wird in Ulm schon seit Längerem fleißig an der Quantentec­hnologie. Erst in diesem Jahr nahm an der Universitä­t der neue Supercompu­ter „Justus 2“seinen Betrieb auf. Er kostete 4,4 Millionen Euro und gehört zu den 400 leistungss­tärksten Rechnern der Welt.

Ruhe, Klarheit, Rationalit­ät: Das sind die Pfunde, mit denen die Donaustadt erfolgreic­h wuchert. Begründet sind sie womöglich auch darin, dass Ulm schon ziemlich früh zu der Erkenntnis gelangt ist, dass es einer prosperier­enden Entwicklun­g nicht unbedingt förderlich ist, wenn sich manche Menschen Extras genehmigen. In Ulm gibt’s schon seit einigen hundert Jahren keine Extrawürst­e mehr.

Die jedes Jahr im Sommer zelebriert­e Schwörfeie­r ist noch heute Zeugnis einer bahnbreche­nden Ulmer Errungensc­haft: Im Großen Schwörbrie­f legten anno 1397 Zünfte und Patrizier einen Streit bei. Sommer für Sommer erneuert Ulms Oberbürger­meister seither seinen Schwur: „Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsame­n und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt.“

Vorbehaltl­os war Ulm, typisch für eine Freie Reichsstad­t, lange Zeit evangelisc­h geprägt. Das Barocke, Katholisch­e, sucht man noch heute fast vergebens in der Stadt. Zementiert wurde dies im Jahr 1533, als die Stadt eine lutherisch­e Kirchenord­nung erhielt. Doch das zahlenmäßi­ge Verhältnis hat sich gedreht. Mittlerwei­le sind 30 Prozent der Ulmer katholisch, nur noch 21 Prozent evangelisc­h. Doch auch die beiden christlich­en Kirchen sind in der Minderheit. Fast die Hälfte der Bewohner gibt an, keiner Religion nahezusteh­en.

Apropos Religion. Ziemlich eifrig bei der Sache sind sie derzeit – was den Bau eines rekordverd­ächtigen Kirchturms angeht – auch in Spanien. In Barcelona wächst schon seit Jahren die Sagrada Familia in die Höhe. Der höchste Turm der Basilika soll dann stolze 172,5 Meter messen. Das Ulmer Münster wäre überflügel­t.

Wegen Corona kann der Kirchenbau, an dem bereits seit 1882 gebastelt wird, aber nicht wie geplant 2026 fertiggest­ellt werden. Und auch wegen der allgemeine­n wirtschaft­lichen Ungewisshe­it in Katalonien können die Verantwort­lichen derzeit keinen konkreten Zeitplan für die Fertigstel­lung nennen – und die Ulmer sich mit ihrem Münsterrek­ord noch ein wenig zurücklehn­en. Bis es zur Ablösung kommt, dürfte noch viel Wasser die Donau runterflie­ßen.

 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW ??
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW
 ?? FOTO: ALEXANDER KAYA ??
FOTO: ALEXANDER KAYA
 ?? FOTO: DAGMAR HUB ??
FOTO: DAGMAR HUB
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany