Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Bescheiden, aber nie zufrieden
Einen Spitzenplatz könnte Ulm, die Großstadt an der Donau, bald jedoch verlieren
ULM - Das Ulmer Selbstverständnis bringt so schnell nichts ins Wanken, dürfte man meinen. Sogar der Absturz der Ulmer Fußballer, der „Spatzen“, wie die Kicker vom SSV Ulm auch genannt werden, von der Ersten Bundesliga hinunter bis in amateurhafte Niederungen, kratzte den Durchschnitts-Ulmer kaum. Schließlich steht in der Stadt noch immer das Münster und mit diesem der höchste Kirchturm der Welt (161,5 Meter).
Auch außerhalb von Architektur und Sport wähnt sich Ulm im Spitzenfeld. Wenn nicht sogar ganz vorne. Einer der bekanntesten Physiker der Welt wurde in Ulm geboren – Albert Einstein –, und außerdem ein Pionier der Flugkunst, Albrecht Ludwig Berblinger. Der ging als „Schneider von Ulm“in die Annalen ein, wenngleich es viele Jahrzehnte dauerte, bis sein Sprung in die Donau (eigentlich wollte er mit einem selbstgebauten Flugapparat über den Fluss hinweg segeln und auf bayerischer Seite landen) als das gewürdigt wurde, was es war: ein herausragendes Beispiel von Mut, gepaart mit schwäbischem Erfindergeist.
Woher die Ulmer ihre Selbstbewusstsein nehmen?
Sie ziehen es aus ihrer langen Geschichte, die nahe legt: In Ulm hat man die Dinge schon immer anders gemacht als anderswo. Beispiel Münster: Finanziert wurde der 1377 begonnene und 1890 vollendete Bau weder von der örtlichen Kirche noch vom Vatikan oder einem Landesfürsten. Nein, die Ulmer allein waren es, die den monumentalen gotischen Kirchenbau bezahlt haben. Besser gesagt: das wirtschaftlich erfolgreiche, wohlhabende Bürgertum. Ulm war stolze Reichsstadt und ist auch heute noch eine reiche Stadt.
Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich erarbeiten. Ein Sprichwort ganz nach Ulmer Gusto. Und „Neider“waren und sind nicht weit. Kleine Nachbarstädte kritisieren bisweilen Ulms „reichsstädtischen Dünkel“. Und profitieren gleichzeitig von der großen Anziehungskraft Ulms als Technologie-, Universitäts-, Medizin- oder Einkaufsstadt. Das Ulmer Umland wächst und gedeiht vor allem auch aufgrund der Ulmer Attraktivität. Und auch, weil in der Stadt selbst nicht mehr allzu viel Platz frei ist für Neuansiedlungen.
Was Ulm in all den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aber auch gelernt hat, ist zu teilen. Explizit verfahren nach dem Motto „man muss auch gönnen können“ist die Stadt vor 20 Jahren, als sich Ikea niederließ. Ein Magnet, der monatlich viele Tausend Menschen zusätzlich zum Shopping in die Donaustadt lockt, die nach einem Bummel durch das Möbelhaus gerne auch noch auf einen Kaffee in Ulms Altstadt oder im Fischerviertel vorbeischauen.
Über die Ansiedlung aber hatte es Streit gegeben, denn auch der bayerische Nachbar Neu-Ulm buhlte um die Gunst der Schweden. Die beiden Städte zogen ihre Lehren aus dem Zank um Ikea, gründeten den Stadtentwicklungsverband (SUN). Die (länderübergreifende) Kooperation gilt als einzigartig. Seither vermarkten sie ihre Gewerbegrundstücke gemeinsam. Das vielleicht populärste Beispiel von bisher mehr als 300 verkauften Grundstücken: die Ansiedlung der Ratiopharm-Arena (Spielstätte der Ulmer Bundesliga-Basketballer), die größtenteils von Ulm auf Neu-Ulmer Grund finanziert wurde. Ein weiteres friedenstiftendes Merkmal ist der Gewerbesteuerausgleich zwischen beiden Städten. Die Finanzierung erfolgt durch eine Umlage. Auch die Nachbargemeinden Dornstadt, Blaustein, Nersingen und Elchingen sind als „Kooperationspartner“mit an Bord.
An die große Glocke hängt der Ulmer solch Großherzigkeit und Weitsicht nicht. Er genießt Erfolge eher im Stillen, Schweigen ist schließlich Gold. Dies gehört zum Ulmer Selbstverständnis ebenso wie die Gewissheit, dass Ulm eben dort ist, wo oben ist: in aller Bescheidenheit. Auch deshalb wird der Ulmer, Uli Hoeneß einmal ausgenommen, auf dem öffentlichen Parkett eher selten laut. Eine der wenigen Ausnahmen, dass man zuletzt Groll aus Ulm vernahm: Als sich Vertreter der Stadt über die in Berlin gefällte Entscheidung ärgerten – lautstark – , dass die ausgelobten 500 Millionen Euro für eine Batterieforschungsfabrik nicht in Ulm, sondern in Münster vergraben werden sollen.
Bei aller Berechtigung dürften die Proteste gegen die umstrittene Entscheidung der Münsteraner Forschungsministerin Anja Karliczek (Vorwurf: „Das hat ein G’schmäckle“) auch taktisch motiviert gewesen sein. Frei nach dem Motto: Wer motzt, kommt dann wenigstens beim nächsten Mal, wenn es in Berlin dicke Summen zu verteilen gibt, zum Zug.
Und so war es dann auch. In diesem Sommer vergab der Bund Gelder, um die neue Nationale Wasserstoffstrategie voranzubringen. In Ulm soll nun eine Forschungsfabrik für Brennstoffzellen und Wasserstoff aufgebaut werden. „HyFab“nennt sich das Zukunftsprojekt auf dem Oberen Eselsberg. Zwar keine 500 Millionen, aber immerhin 30 Millionen Euro hat der Bund zugesagt.
Deutschland will beim Wasserstoff weltweit führend werden – und Ulm, kaum überraschend, deutscher Wasserstoff-Leuchtturm. Die Stadt mit ihren 126 000 Einwohnern zeigt sich zwar bescheiden (fast immer), aber zufrieden nimmer.
Unberechtigt sind die Ulmer Ansprüche auf die Wasserstoff-Krone nicht. Es waren vor allem Ulmer Forscher, die die Technologie in den vergangenen Jahren für die Wirtschaft und alltägliche Anwendungen salonfähig gemacht haben, der Durchbruch scheint nicht mehr allzu fern.
Ulm giert nach mehr, die Stadt will ihren Platz an der Sonne auch in einer nahen und fernen Zukunft sichern. Deshalb spielen Forschung und Entwicklung hier eine so große Rolle, die Stadt hat der Wissenschaft sogar ein eigenes Stadtviertel geschenkt: die Ulmer „Wissenschaftsstadt“. Zu ihr gehört auch die Uniklinik,
die mit rund 6400 Mitarbeitern Ulms größter Arbeitgeber ist.
Was im Mittelalter Handel und Mobilität waren – sie zu beherrschen, sicherte Macht und Einfluss –, auf Straßen zu Wasser und zu Land (es kommt nicht von ungefähr, dass Ulm auch Heimat ist von Kässbohrer), sind heute Daten. Geforscht wird in Ulm schon seit Längerem fleißig an der Quantentechnologie. Erst in diesem Jahr nahm an der Universität der neue Supercomputer „Justus 2“seinen Betrieb auf. Er kostete 4,4 Millionen Euro und gehört zu den 400 leistungsstärksten Rechnern der Welt.
Ruhe, Klarheit, Rationalität: Das sind die Pfunde, mit denen die Donaustadt erfolgreich wuchert. Begründet sind sie womöglich auch darin, dass Ulm schon ziemlich früh zu der Erkenntnis gelangt ist, dass es einer prosperierenden Entwicklung nicht unbedingt förderlich ist, wenn sich manche Menschen Extras genehmigen. In Ulm gibt’s schon seit einigen hundert Jahren keine Extrawürste mehr.
Die jedes Jahr im Sommer zelebrierte Schwörfeier ist noch heute Zeugnis einer bahnbrechenden Ulmer Errungenschaft: Im Großen Schwörbrief legten anno 1397 Zünfte und Patrizier einen Streit bei. Sommer für Sommer erneuert Ulms Oberbürgermeister seither seinen Schwur: „Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt.“
Vorbehaltlos war Ulm, typisch für eine Freie Reichsstadt, lange Zeit evangelisch geprägt. Das Barocke, Katholische, sucht man noch heute fast vergebens in der Stadt. Zementiert wurde dies im Jahr 1533, als die Stadt eine lutherische Kirchenordnung erhielt. Doch das zahlenmäßige Verhältnis hat sich gedreht. Mittlerweile sind 30 Prozent der Ulmer katholisch, nur noch 21 Prozent evangelisch. Doch auch die beiden christlichen Kirchen sind in der Minderheit. Fast die Hälfte der Bewohner gibt an, keiner Religion nahezustehen.
Apropos Religion. Ziemlich eifrig bei der Sache sind sie derzeit – was den Bau eines rekordverdächtigen Kirchturms angeht – auch in Spanien. In Barcelona wächst schon seit Jahren die Sagrada Familia in die Höhe. Der höchste Turm der Basilika soll dann stolze 172,5 Meter messen. Das Ulmer Münster wäre überflügelt.
Wegen Corona kann der Kirchenbau, an dem bereits seit 1882 gebastelt wird, aber nicht wie geplant 2026 fertiggestellt werden. Und auch wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Ungewissheit in Katalonien können die Verantwortlichen derzeit keinen konkreten Zeitplan für die Fertigstellung nennen – und die Ulmer sich mit ihrem Münsterrekord noch ein wenig zurücklehnen. Bis es zur Ablösung kommt, dürfte noch viel Wasser die Donau runterfließen.