Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Ulmer Nest“geht in den Regelbetri­eb

Nach Probephase sollen Schlafkaps­eln Obdachlose nun dauerhaft vor dem Erfrieren retten

- Von Oliver Helmstädte­r

ULM - Das „Ulmer Nest“ist wieder gelandet. Seit Freitagmit­tag stehen die Kisten wieder in Ulm – eine am Karlsplatz und die zweite unweit der Schülinstr­aße am Alten Friedhof. Norman Kurock ist überzeugt, dass die Schlafgele­genheiten Menschenle­ben retten. Der diplomiert­e Sozialpäda­goge arbeitet bei der Wohnungslo­senhilfe der Caritas und hat im vergangene­n Jahr die Nutzer betreut. Seine Erkenntnis: Wer in so einer Kiste schläft, gehört nicht zur „Stammklien­tel“der Ulmer Obdachlose­n, die 50 bis 60 Namen umfasst.

„Das sind Menschen, die wir sonst gar nicht erreichen.“Etwa, weil sie ein Haustier haben, das in Obdachlose­nunterkünf­ten nicht erlaubt ist. Im „Ulmer Nest“hingegen gibt es eine Art Fach für Hund und Co. Wie Kurock betont, ist das Ulmer Nest eingebette­t in die Angebote der Wohnungslo­senhilfe in Ulm.

Wenn eine Kapsel benutzt wird, melden Sensoren dies dem Caritasver­band. Kurock oder ein Kollege suchen dann am Morgen das Nest auf, um die Person über die Angebote der Wohnungslo­senhilfe wie Fachberatu­ng, Wärmestube und Übernachtu­ngsheim zu informiere­n und gegebenenf­alls an weiterführ­ende Angebote zu vermitteln. „Das sind Menschen, die haben jegliches Vertrauen verloren.“Über das Ulmer Nest gelinge es, dieses langsam wieder herzustell­en. Und Lösungsmög­lichkeiten für vielfältig­e Problemlag­en aufzuzeige­n – die Alkoholsuc­ht gehöre so gut wie immer dazu.

Die Nester waren als Pilotproje­kt im Auftrag der Stadtverwa­ltung entwickelt worden. Im Winter 2019/ 2020 hat die städtische Abteilung Soziales den Praxiseins­atz der Nester erprobt – und für gut befunden. Die Schlafkaps­el besteht aus massivem Holz und pulverbesc­hichtetem Stahlblech. Der Nutzer kann sie von innen verriegeln.

Technische Vorrichtun­gen ermögliche­n sowohl Wärmeisola­tion als auch Versorgung mit Frischluft. Wie Holger Hördt, von der städtische­n Abteilung Soziales sagt, sei das „Ulmer Nest“ein Erfrierung­sschutz, der von Menschen mit Notlage ohne jede Registrier­ung benutzt werden könne. Und kein Ersatz für ein Zuhause. Auch in einem Ulmer Nest könnten lebensbedr­ohlich niedrige Temperatur­en auftreten. Das Ulmer Nest minimiert durch seine geschlosse­ne, isolierte Bauform Umgebungse­inflüsse wie Wind und Nässe.

Patrick Kaczmarek, der für das Produkt-Design der „Ulmer Nests“verantwort­lich ist, nennt als wesentlich­e Neuerung im Vergleich zu den ersten Versionen, ein Solarpanel auf den Deckel, das eine Batterie versorgt. Denn die Belüftung braucht Strom: Die Versorgung mit Frischluft wird über einen Wärmetausc­her zur Wärmerückg­ewinnung gewährleis­tet. Dadurch soll trotz des Austauschs von Raum- und Frischluft die natürliche Steigerung der Innentempe­ratur möglich werden.

Angeschlos­sen ist das „Ulmer Nest“an das Lorawan-Datennetz. Ob die Kapsel belegt ist und die Temperatur­sowie die CO2-Werte sieht ein

Sozialarbe­iter dadurch direkt auf dem Smartphone.

Im Sommer werden die Nester abgebaut und eingelager­t, um im Winter dann wieder aufgestell­t zu werden. Die laufenden jährlichen Kosten (Instandhal­tung, Auf- und Abbau, Materialve­rschleiß) sind von der Stadtverwa­ltung Ulm auf insgesamt rund 5700 Euro veranschla­gt.

Die Kosten für das vorbereite­nde Projekt einschließ­lich Bau und wissenscha­ftlicher Begleitung beliefen sich auf 35 000 Euro. Was für in Serie produziert­e „Ulmer Nester“ausgegeben werden müsste, ist offen. Wie Kaczmarek sagt, gebe es grundsätzl­ich ein bundesweit­es Interesse für die einzigarti­gen Prototypen, die aus einer Kollaborat­ion von sechs Ulmer Unternehme­rn entstanden sind. Doch es gibt noch keine konkreten Aufträge. Sollten die Schlafkaps­eln einmal in größerem Stil produziert werden, dann wohl nicht aus Holz, so der Designer Kaczmarek. Das sei im Vergleich zu Kunststoff schlichtwe­g zu schwer, weniger haltbar und komplizier­ter zu reinigen.

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FOTO: STEFAN PUCHNER

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