Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Britisches Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps
Ein Grund ist die neue Variante des Corona-Virus – Impfprogramm als Hoffungsschimmer
LONDON - Nach der Ausrufung des Katastrophenfalls in London wegen der hohen Auslastung der Krankenhäuser rechnen Experten in Großbritannien mit einer weiteren Verschärfung der Situation. Der medizinische Chefberater der Regierung, Chris Whitty, warnte am Sonntag vor einem Kollaps des Gesundheitssystems: „Wenn das Virus so weitermacht, werden Krankenhäuser in echten Schwierigkeiten sein, und zwar bald.“Das könne schon in wenigen Wochen der Fall sein. „Es wird Todesfälle geben, die vermeidbar gewesen wären.“
Vor den Notaufnahmen stauen sich schon jetzt die Rettungswagen. Patienten müssten teilweise bis zu neun Stunden auf ein Krankenhausbett warten, sagte die Geschäftsführerin des britischen Verbands der Rettungssanitäter, Tracy Nicholls.
Allein am Samstag waren in Großbritannien knapp 60 000 Neuinfektionen gemeldet worden. Verantwortlich dafür machen die Regierung und Mediziner unter anderem eine neue, wohl noch ansteckendere Virusvariante, die in Teilen des Landes grassiert. Zudem werden die Regeln zur Eindämmung des Virus nicht mehr so konsequent eingehalten. Die Gesamtzahl der nachweislich mit dem Coronavirus infizierten Toten in Großbritannien liegt bei rund 95 000.
Besonders schlimm ist die Lage in London. Dort hatte Bürgermeister Sadiq Khan am Freitag den Katastrophenfall ausgelöst. Die Sieben-TagesInzidenz liegt dort inzwischen bei mehr als 1000. Das ist die Anzahl der Ansteckungen innerhalb einer Woche
pro 100 000 Einwohner. „Wenn wir nicht unverzüglich handeln, könnte unser (Gesundheitsdienst) NHS überwältigt werden und mehr Menschen werden sterben“, so Khan.
Die Zahl der im Krankenhaus behandelten Covid-19-Patienten sei in der ersten Januarwoche in London um knapp ein Drittel, die Zahl der künstlich beatmeten Patienten um mehr als 40 Prozent gestiegen. Zu Hilfe kamen Feuerwehrleute und Polizisten, die als Fahrer von Krankenwagen eingesetzt wurden.
Die Regierung hatte in der vergangenen Woche den inzwischen dritten landesweiten Lockdown ausgerufen. Doch nach Ansicht einiger Experten wird das nicht ausreichen, um die Zahl der Infektionen zu senken.
Die Hoffnung ruht nun darauf, dass so schnell wie möglich breite Bevölkerungsschichten geimpft werden können. Am Freitag ließ die Regierung in London mit dem Impfstoff des US-Herstellers Moderna bereits das dritte Präparat zu. Bereits im Einsatz sind das Mittel von Biontech/ Pfizer und der Impfstoff der Universität Oxford und des Konzerns Astrazeneca.
Bislang sind in Großbritannien nach Angaben der Regierung rund 1,5 Millionen Menschen gegen Covid-19 geimpft werden. Das Tempo der Impfkampagne soll jedoch deutlich beschleunigt werden. Ziel ist es, bis Mitte Februar den besonders gefährdeten 15 Millionen Briten eine erste Impfung anzubieten. Zuletzt wurden täglich rund 200 000 Alte oder gesundheitlich Vorbelastete geimpft, so Gesundheitsminister Matthew Hancock am Sonntag
Diese Woche sollen Dutzende riesiger Impfzentren ihre Arbeit aufnehmen. Wie schon in der Krise um die Nachverfolgung von Kontaktinfizierten eilt auch diesmal die Armee dem Gesundheitssystem zu Hilfe, gestützt auf die Erfahrung beim Aufbau von Lieferketten in Kriegsgebieten. Man stehe vor einer Aufgabe „von beispielloser Komplexität“, glaubt Brigadegeneral Phil Prosser.
Denn auch auf der Insel gibt es Hindernisse. So müssen die rund 40 000 Ruheständler, die sich zum freiwilligen Dienst gemeldet haben, erst einmal stundenlange OnlineSchulungen über sich ergehen lassen. Man sehe sich mit „exzessiver Bürokratie“konfrontiert, klagt Martin Marshall vom Berufsverband der Allgemeinärzte.
Auch die regionale Verteilung der Impfstoffe lässt zu wünschen übrig. Gesundheitsminister Hancock erlebte die Probleme aus erster Hand, als er eine zum Impfzentrum umgewandelte Arztpraxis im Londoner Norden besuchte: Peinlicherweise war die angekündigte Lieferung des Vakzins ausgeblieben.
Wie stets verbreitet Premier Boris Johnson Optimismus. Gewiss werde es in den kommenden Wochen „Stückwerk und Holprigkeiten“geben. Der Regierungschef zeigt sich aber überzeugt: Bis Mitte Februar werde genug Impfstoff zur Verfügung stehen, um die wichtigsten Risikogruppen zu versorgen. Dazu zählen alle Briten über 70 Jahre, gesundheitlich Vorbelastete sowie das Personal in Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen, insgesamt knapp 14 Millionen Menschen.