Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Die großen Unbekannten
In Großbritannien verschärft eine Corona-Mutation die Lage – Es werden immer neue Erkenntnisse über Virusvarianten bekannt
BERLIN - Es wird geimpft in Deutschland, wenn auch mit holprigem Start. Immer mehr Dosen sind verfügbar, zwei Vakzine zugelassen. Das viel beschworene Licht am Ende des Pandemie-Tunnels also? Der Tunnel wird gerade wieder länger. Das liegt an Mutationen des Virus. Ein Problem für Politik und Forscher: Frühestens in einigen Monaten werden endgültig gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Was wir bislang wissen:
Warum entstehen Mutationen?
Viren verändern sich, wenn sie sich vermehren. Dazu nutzen sie menschliche Zellen. Hat ein Corona-Virus eine solche „gekapert“, zwingt es diese, Corona-Kopien herzustellen. Dabei treten immer wieder kleine Kopierfehler auf, die den genetischen Code des Virus verändern – es mutiert. Befallen mutierte Viren einen weiteren Menschen, können bei ihrer Vermehrung erneut Fehler passieren. Varianten gibt es daher bereits hunderttausendfach.
Sind Mutationen gefährlich?
Das kommt darauf an. Werden immer mehr Menschen infiziert, steigt die Häufigkeit von Mutationen. Dabei kommt es auch zu Virus-Formen, die sich besser übertragen lassen als andere – und deshalb ihre Virus-Geschwister in der Ausbreitung überholen. Eine Mutation kann also durchaus die Verbreitung des Erregers beschleunigen, den Krankheitsverlauf verschlimmern, die Wirksamkeit von Impfstoffen und Medikamenten beeinträchtigen – oder auch ganz im Gegenteil das Virus harmloser machen. Ob sich eine mutierte Variante durchsetzt, hängt von äußeren Umständen ab.
Warum sind einige Mutationen des Corona-Virus besonders?
Sie setzen sich aus vielen unterschiedlichen Mutationen zusammen. Das ist ungewöhnlich. Britische Forscher vermuten, dass sich die Variante in einem Patienten mit einem sehr schwachem Immunsystem entwickelt hat. Die B.1.1.7 getaufte VirusVariante aus Großbritannien beinhaltet ein Paket aus mindestens 17 verschiedenen Mutationen. Die in Südafrika aufgetauchte Mutation, 501.V2 bezeichnet, hat acht verschiedene Mutationen im Erbgut angehäuft. Über die in Japan entdeckte Variante ist derzeit noch sehr wenig bekannt. Eigentlich, sagt Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel, kommt das Coronavirus im Schnitt nur auf zwei Mutationen im Monat. Die Varianten in Großbritannien und Südafrika haben sich offensichtlich unabhängig voneinander entwickelt, ähneln sich aber. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité hat die zwei VirusMutanten auf die „Sorgenliste“gesetzt. Denn: Sie scheinen zwischen 50 und 70 Prozent ansteckender zu sein. Denn die Variante kann wohl leichter als ihre Vorgänger an die menschlichen Zellen andocken. In England und Südafrika sind sie jeweils die dominante Corona-Variante geworden. Das verheißt nichts Gutes.
Zumal zumindest die englische Mutation in 45 Ländern nachgewiesen wurde, auch in Deutschland.
Was bedeutet die Ausbreitung der Virusvarianten?
Das sieht man derzeit in Großbritannien. Die derzeit dramatisch hohen Ansteckungszahlen dort führen Infektiologen auch auf die Mutation zurück. Auch in Dänemark beginnt B.1.1.7 bereits, sich auszubreiten. Bereits Mitte November sind dort die ersten Fälle der Mutation aufgetaucht – und werden nun seit Anfang Dezember erfasst. Ist die Mutation einmal im Land, wird es „aller Voraussicht nach ungleich schwerer, die Pandemie bis zur ausreichenden Durchimpfung der Bevölkerung zu kontrollieren“, so der Mikrobiologe Michael Wagner von der Universität
Wien. Forscher Neher erwartet, dass die englische Variante in Deutschland Anfang Februar so häufig sein dürfte, dass sie „merklichen Einfluss“auf die Fallzahlen haben könnte. Deutlich wird das Problem an der Reproduktionszahl, kurz R-Wert genannt. Die liegt hierzulande laut Robert-Koch-Institut aktuell bei 1,16. Das heißt, dass 100 Infizierte rein rechnerisch 116 weitere Menschen anstecken. Laut RKI-Vize Lars Schaade sollte die Zahl möglichst „bei 0,7 oder noch niedriger“liegen, um die Verbreitung des Virus spürbar zu verlangsamen. Wenn der RWert der Mutationen aber tatsächlich bei 1,5 oder höher liegen sollte, habe das auf mehrere Wochen hochgerechnet „eine extreme Auswirkung auf die Gesamtzahl der Infektionen“. So schätzt jedenfalls der Virologe
Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die Lage ein. Er hat eine Studie zum Mutationsverhalten von Sars-Cov-2 veröffentlicht.
Führt die Mutation zu schwereren Krankheitsverläufen?
Dazu ist ebenfalls wenig bekannt, bislang gibt es zumindest keine Anzeichen dafür. Ebenso fraglich ist es, ob die Mutationen vor allem Kinder infizieren. Zunächst sahen Experten dafür Anzeichen in Großbritannien, die sich jedoch nicht bestätigt haben. Doch auch wenn die erhöhte Infektiosität nicht unbedingt mit einem erschwerten Krankheitsbild zusammenhänge, so führe die reine Tatsache, dass mehr Personen erkrankten,
„unweigerlich dazu, dass es mehr Todesfälle beziehungsweise mehr belegte Betten gibt“, betont Bergthaler. Auch für Christian Drosten wäre ein solch hoher R-Wert, wenn er sich bewahrheiten sollte, besorgniserregend – „dann haben wir ein richtiges Problem“. Der Londoner Epidemiologe Adam Kucharski hat vorgerechnet, dass auf einen Monat gerechnet ein 50 Prozent ansteckenderes Coronavirus über zehn Mal mehr zusätzliche Menschenleben kostet als ein gleich ansteckendes Virus, das 50 Prozent tödlicher verläuft.
Was weiß man über die Virusmutationen in Deutschland?
Derzeit weiß man von Einzelfällen, einer davon trat in Baden–Württemberg auf. Es handelt sich in allen Fällen um Reiserückkehrer aus Großbritannien. Das man so wenig über das tatsächliche Ausmaß der B.1.1.7Verbreitung weiß, hängt auch damit zusammen, dass man hierzulande das vollständige Erbgut des bei den Corona-Tests entdeckten Viren sehr selten entschlüsselt. Ganz anders als in Dänemark und Großbritannien, wo man bis jetzt zwölf Prozent beziehungsweise fünf Prozent aller nachgewiesenen Infektionen einer genomischen Analyse unterzog, die aufwändig und teuer ist. Deutschland kommt bislang auf 0,2 Prozent. Weshalb Bund und Länder aufgewacht sind: Neue Virusvarianten sollen künftig durch verstärkte ErbgutSequenzierung schneller entdeckt werden. Das Bundesgesundheitsministerium bereitet dazu eine Verordnung vor.
Was heißt das für die Corona-Beschränkungen?
Für Isabella Eckerle von der Universität Genf, bedeuten die Erkenntnisse: Man müsse in der Einhaltung der Corona-Regeln „noch konsequenter sein“, um die Weiterverbreitung möglichst stark zu unterbinden. Letztlich könne man dann auf das großflächige Impfen setzen, „aber das dauert noch“. Die gute Nachricht immerhin ist: Zumindest die bisher zugelassenen Impfstoffe scheinen auch gegen beide Mutationen zu wirken. Für den Österreicher Wissenschaftler Andreas Bergthaler ist das alles jedenfalls „ein Weckruf. Denn es wird nicht die letzte Variante sein, die uns begegnet.“