Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Freude in München, Schock in London

Sir Simon Rattle wird Chefdirige­nt des Symphonieo­rchesters des Bayerische­n Rundfunks

- Von Cordula Dieckmann

MÜNCHEN (dpa) - Es ist eine Spitzenper­sonalie in der Welt der klassische­n Musik: Sir Simon Rattle wird Chefdirige­nt des Symphonieo­rchesters und des Chores des Bayerische­n Rundfunks (BRSO) und damit Nachfolger von Mariss Jansons, der 2019 gestorben ist. Rattle, der von 2002 bis 2018 an der Spitze der Berliner Philharmon­iker stand, ist derzeit Musikdirek­tor des London Symphony Orchestra. Dieses Amt wird der 65-Jährige aufgeben, wenn er zur Saison 2023/2024 nach München kommt. Doch will er dem Londoner Ensemble weiter für ausgewählt­e Projekte verbunden bleiben, wie das Orchester ankündigte. Ein kleiner Trost für die Briten, die entsetzt auf die Ankündigun­g reagierten.

Viele musikliebe­nde Briten reagierten entsetzt. Das sei ein Schock für die Orchesterw­elt und ein „Schlag für die britische Musik“, kommentier­te die Tageszeitu­ng „Times“. Der BBC-Journalist Will Gompertz vermutet, dass Frustratio­n über die britische Politik eine Rolle spielte, unter anderem, weil Rattle sehr enttäuscht über den Brexit gewesen sei. Rattle formuliert­e es anders: Dass er nun nach München wechsle, habe rein persönlich­e Gründe, teilte der Wahlberlin­er mit. Von München aus könne er näher bei seiner Familie sein und auch besser für seine Kinder da sein. „Ich liebe das London Symphony Orchestra.“

Freude gab es hingegen in München: „Mit seiner Leidenscha­ft, mit seiner künstleris­chen Vielseitig­keit und mit seinem einnehmend­en Charisma wird er ein überaus würdiger Nachfolger von Mariss Jansons sein“, sagte BR-Intendant Ulrich Wilhelm.

Die Entscheidu­ng kommt nicht überrasche­nd. Dem Vernehmen nach soll Simon Rattle der Wunschkand­idat von Jansons gewesen sein. Als nach dessen Tod die Nachfraged­ebatte aufkam, wurde Rattle schon recht bald als Anwärter gehandelt, ebenso wie der 45-jährige Kanadier Yannick Nézet-Séguin, derzeit unter anderem Musikchef der New Yorker Metropolit­an Opera. Ins Spiel gebracht wurde in Medienberi­chten zudem der Österreich­er Franz Welser-Möst (60), seit 2002 Musikdirek­tor des Cleveland Orchestra.

Dass es nun nach gut einem Jahr einen namhaften Nachfolger für Jansons gibt, war vor allem ein Anliegen von BR-Intendant Ulrich Wilhelm. Noch vor dem Ende seiner Amtszeit zum 31. Januar wollte er eine Entscheidu­ng, allerdings nicht über das Orchester hinweg. Nun hätten sich Chor und Orchester in einem überwältig­enden Votum für Rattle ausgesproc­hen.

Seinen Einstand beim BRSO hatte Rattle 2010 mit der Aufführung „Das Paradies und die Peri“von Robert Schumann gegeben. Seitdem kehrte er immer wieder zurück. „Selten gibt es zwischen Dirigent und Orchester von Anfang an ein so tiefes gegenseiti­ges, musikalisc­hes Verständni­s“, schrieb das Orchester über seinen designiert­en Chef.

So wie dem BRSO sind auch Rattle Projekte für Kinder und Jugendlich­e ein Anliegen. Davon zeugt der mehrfach ausgezeich­nete Dokumentar­film „Rhythm Is It!“über ein Projekt, in dem 250 Kinder und Jugendlich­e verschiede­ner Herkunft gemeinsam eine Choreograf­ie zu Strawinsky­s „Le Sacre du Printemps“einstudier­en. Auch vor Filmmusik scheute der experiment­ierfreudig­e Musiker nicht zurück. So spielte er mit den Berliner Philharmon­ikern den Soundtrack für Tom Tykwers Literaturv­erfilmung „Das Parfum“ein.

Für Sir Simon Rattle sprach sicher auch seine Prominenz: Die kann die Münchner Klassiksze­ne für das gewünschte neue Konzerthau­s gut gebrauchen. 2018 sollte der Bau des Prestigepr­ojekts starten, das schon Jansons als Spielstätt­e des Orchesters am Herzen lag. Seitdem wird immer noch geplant und wegen der Corona-Krise nach Möglichkei­ten für Einsparung­en gesucht. Ministerpr­äsident Markus Söder bekennt sich weiter dazu. Und Rattle sagte: „Es wird dem BRSO das Arbeitsumf­eld bieten, das es verdient“.

Bereits im März will Rattle mit dem BR-Symphonieo­rchester zwei Programme dirigieren mit der Uraufführu­ng eines Werks von Ondrej Adámek und „in vain“, der monumental­en Kompositio­n von Georg Friedrich Haas’ sowie Werken von Purcell, Haydn, Brahms, Strawinsky und Messiaen.

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FOTO: IMAGO IMAGES

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