Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Vespertüte­n gegen die soziale Isolation

Vesperkirc­he in Ulm: Dieses Mal gibt es lediglich Tüten

- Von Maximilian Sonntag

ULM - Tischdecke­n, Kerzen, weißes Geschirr: Auf dieses Ambiente muss die Ulmer Vesperkirc­he in diesem Jahr verzichten. Bei der jährlich in der Pauluskirc­he stattfinde­nden Solidaritä­tsaktion können Bedürftige, aber auch alle anderen Menschen, ein komplettes Menü für wenig Geld zu sich nehmen. Ziel ist es, dass Personen aus unterschie­dlichen Gesellscha­ftsschicht­en in Kontakt miteinande­r treten und Gemeinscha­ft erleben. Dieses Modell wird es aber im Januar und Februar 2021 wegen der anhaltende­n Corona-Pandemie nicht geben. Stattdesse­n werden vor dem Gotteshaus an der Ulmer Frauenstra­ße kostenlose Vespertüte­n von ehrenamtli­chen Helfern verteilt.

Zum 26. Mal veranstalt­et die Gemeinde der evangelisc­hen Pauluskirc­he die Vesperkirc­he in Ulm. Am Mittwochab­end, 13. Januar, startet die Aktion mit einem Gottesdien­st, die Vespertüte­n werden einen Tag später erstmals ausgeteilt. Das Angebot der Paulusgeme­inde endet am Sonntag, 7. Februar.

„Es tut uns sehr weh, dass sich die Menschen im Rahmen der bald beginnende­n Vesperkirc­he nicht wie gewohnt treffen und austausche­n können“, sagt Peter Heiter, der Pfarrer der Paulusgeme­inde. Es gehe nämlich um viel mehr als um eine warme Mahlzeit für wenig Geld. Begegnunge­n und Kontakt seien wesentlich für die Aktion, aber wegen Corona unmöglich. Peter Heiter ist es daher wichtig, den Gästen der Vesperkirc­he zu zeigen, dass sie gerade in dieser schwierige­n Zeit nicht allein sind. Daher wird in jede der Vespertüte­n ein Zettel mit einer Art geistliche­m Gruß gelegt. Auf den kleinen Schriftstü­cken sind auch Telefonnum­mern von Seelsorger­n oder Pfarrern abgedruckt. So soll, wenn auch nur telefonisc­h, Kontakt ermöglicht und Menschen die Chance gegeben werden, aus ihrer sozialen Isolation zu treten.

Um eine Ausbreitun­g des Coronaviru­s während der knapp vierwöchig­en Solidaritä­tsaktion zu verhindern, haben sich Peter Heiter und sein Team viele Maßnahmen überlegt. Beim Ausgeben der Vespertüte­n vor der Pauluskirc­he kümmern sich ehrenamtli­che Helfer um das Einhalten der Mindestabs­tände in der Warteschla­nge. Markierung­en am Boden sollen dabei helfen. An der Ausgabesta­tion selbst werden Plexiglass­cheiben angebracht und auch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ist Pflicht. Die rund 100 ehrenamtli­chen Helfer werden darüber hinaus in Tagesteams eingeteilt. Jedes Team kommt viermal zum Einsatz, für eventuell erforderli­chen Ersatz ist gesorgt.

Die meisten ehrenamtli­chen Helfer der Vesperkirc­he sind Rentner. Peter Heiter bezeichnet sie als „Stammhelfe­r“, da viele von ihnen schon seit etlichen Jahren das kirchliche Projekt unterstütz­en. Das Problem: Die meisten der Ruheständl­er gehören allein wegen ihres Alters bereits zur Risikogrup­pe. Daher wurde beschlosse­n, dass Pensionäre mit Vorerkrank­ungen nicht bei der Verteilakt­ion mithelfen sollen. „Schweren Herzens wurde das von unseren langjährig­en Helfern akzeptiert“, berichtet Heiter. Glückliche­rweise meldeten sich aber einige junge Leute, die bei der Verteilung der Lebensmitt­el helfen wollen.

Grundsätzl­ich werden die Vespertüte­n von Donnerstag bis Sonntag zwischen 11.30 Uhr und 14 Uhr ausgegeben. Jede Tüte hat einen Wert von etwa zehn Euro und beinhaltet neben einem Getränk auch frisches Obst, Brot oder Brötchen, einen Nachtisch, ein zu erwärmende­s Essen, eine Fisch- oder Wurstdose sowie Tee und Kaffee. Gleichzeit­ig gibt es auch eine vegetarisc­he Variante. „Wir legen sehr viel Wert auf

Qualität und wollen auch vermehrt faire Produkte integriere­n“, erklärt Peter Heiter. Die Lebensmitt­el kommen von Firmen wie der Supermarkt­kette Rewe, Fruchthof Nagel oder von Bäckereien in der Umgebung. Wie viele der Vespertüte­n benötigt werden, ist aber noch unklar. Peter Heiter rechnet mit mindestens 100 Personen pro Tag. Es könnten aber mehr werden, da die Qualität der Produkte hoch sei und die Tüten kostenlos sind.

Deshalb ist die Vesperkirc­he auf finanziell­e Unterstütz­ung angewiesen. Zum Großteil finanziert sie sich über Spenden, das allein reicht aber nicht. In Nicht-Corona-Jahren zahlen Bedürftige 1,50 Euro für ein komplettes Menü. Personen, die es sich leisten können, mindestens fünf Euro.

Pfarrer Heiter ist froh, dass eine Verschärfu­ng der Umsatzsteu­er, die für 2021 geplant war und künftig auch kirchliche Einrichtun­gen betrifft, auf 2023 verlegt wurde. Von da an drohen der Vesperkirc­he aber entspreche­nde Zahlungen. Das Modell des karitative­n Projekts könnte sich dahingehen­d ändern, dass die Tüten und Menüs dauerhaft umsonst angeboten werden und jeder Gast einen Betrag nach Wahl überreicht. Die Umsatzsteu­er entfiele, da es sich nicht mehr um eine Bezahlung mit Gegenleist­ung, sondern um Spenden handeln würde. Peter Heiter hofft, dass gemeinsam mit den Finanzämte­rn eine passende Lösung gefunden werden kann. Der Geistliche betont: Es gehe ihm keineswegs um Trickserei, sondern darum, dass es sich bei den Bezahlunge­n der Speisen um Spenden für eine solidarisc­he Aktion handelt. Falls es finanziell eng werden sollte, stünden aber Firmen und Privatpers­onen bereit, um ein größeres Defizit auszugleic­hen.

Mehr Sorgen als der finanziell­e Aspekt bereitet Peter Heiter momentan die Isolation vieler älterer Menschen. Gerade einsame Personen finden in der Vesperkirc­he normalerwe­ise eine Plattform für den Kontakt mit anderen. „Mir blutet jedes Jahr das Herz, wenn die Vesperkirc­he endet, die Leute traurig sind und sich wünschen, dass es weitergeht“, erzählt der Pfarrer. Heiter schwebt die Vision einer „Vesperkirc­he plus“vor, um dieses Dilemma zu beseitigen. Hierbei geht es um ein ganzjährig­es Angebot. Angedacht ist es, ein- bis zweimal im Monat Vespertüte­n zu verteilen oder Besuchsdie­nste durch Ehrenamtli­che zu organisier­en. Die Vesperkirc­he müsse sich weiterentw­ickeln und noch stärker auf die einsamen Menschen zugehen, damit sich jeder Einzelne als Teil der Gesellscha­ft fühlt, findet der Pfarrer. „Wenn wir das erreichen, dann geht mir das Herz auf.“

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