Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Südwesten macht Tempo bei KI-Forschung
Ethische Fragen sollen bei Innovationen berücksichtigt werden
TÜBINGEN (lsw) - Die Künstliche Intelligenz (KI) boomt, in Baden-Württemberg und Bayern wird sehr viel Geld dafür in die Hand genommen. Doch wer schaut den Forschern dabei auf die Finger?
Denn die neuen Möglichkeiten bergen nach Meinung einiger Wissenschaftler durchaus Risiken. Aus Sicht des Medien- und Technikethikers Thilo Hagendorff kann die KIForschung weitreichende Folgen für verschiedene Bereiche der Gesellschaft haben. Mit KI können Programme etwa aus Profilbildern von Menschen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf deren politische, sexuelle Orientierung oder Persönlichkeitsmerkmale schließen.
Das Gefahrenpotenzial solcher Anwendungen darf aus Sicht von Hagendorff nicht vernachlässigt werden. „Der Umgang mit solchen Ergebnissen ist nicht ausreichend geregelt“, sagt Hagendorff, der im Exzellenzcluster Maschinelles Lernen an der Universität Tübingen arbeitet.
Dies liegt laut Hagendorff auch an mangelnder Regulierung. „Wir haben in den allermeisten Fällen eine reaktive Reparaturpolitik anstatt einer proaktiv agierenden Steuerungspolitik.“Sprich: Die Technikbranche sei ein hochbeschleunigtes System, das unendlich schnell erfinde, je mehr Geld man hineinstecke. Die politischen Mühlen mahlten hingegen naturgemäß viel langsamer. Deshalb müsse die Poltik immer nachträglich Dinge verbieten oder begrenzen, die bereits marktreif sind. Stattdessen wäre es aus seiner Sicht besser, wenn es vorher eine Debatte über einen gesetzlichen Rahmen gäbe – mit Grenzen für die Forscher.
Die Zeit drängt, warnt der Wissenschaftler. Die KI erlebe seit einigen Jahren wieder einen Boom. „Wir sind jetzt in einer Sondierungsphase, denn wir haben noch kein normatives Rahmenwerk, auf das sich die Gesellschaft geeinigt hat“, sagte Hagendorff. „Einen Fahrplan im großen Stil gibt es nicht.“
Im Bereich Künstliche Intelligenz unternimmt Baden-Württemberg große Anstrengungen. So werden die Wissenschaftsstandorte „Cyber Valley“in Tübingen und Stuttgart zurzeit kräftig ausgebaut. Das Land steckte nach Auskunft von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bisher 140 Millionen Euro in den Forschungsverbund. Die Hector Stiftung will die Berufung von KISpitzenwissenschaftlern im „Cyber Valley“mit bis zu 100 Millionen Euro fördern.
Nach dem „Cyber Valley“und beispielsweise dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) soll schon bald auch die Entscheidung über einen Standort für den geplanten Innovationspark für künstliche Intelligenz (KI) fallen. Der Landtag hatte im Grundsatz 50 Millionen Euro für das Projekt freigemacht. In dem Park sollen sich Wissenschaftler, Unternehmen und Investoren vernetzen und unter bestmöglichen Bedingungen arbeiten können.
Südwest-Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) hält KI für eine Schlüsseltechnologie der Zukunft. „Baden-Württemberg darf hier nicht den Anschluss verlieren. Wir wollen künftig zum einen Nutzer, zum anderen vor allem aber auch global bedeutender Lieferant von KI-basierten Produkten und Dienstleistungen sein“, sagt sie. „Wir dürfen hier keine Zeit verlieren und wollen den Innovationspark KI noch 2021 in die Umsetzung bringen.“
Auch in Bayern will man nicht hinten anstehen. Der Freistaat hat 2019 eine „Hightech Agenda“verkündet. Unter anderem sollen 100 neue Professuren an Bayerns Hochschulen im Bereich KI eingerichtet werden.
Doch wer hilft den Forschern und deren Vorhaben, sie auf ethische und gesellschaftliche Fragen hin zu reflektieren? Im „Cyber Valley“wurde im Jahr 2019 dazu ein „Ethikbeirat“(Public Advisory Board) gegründet. Dem unabhängigen Gremium gehört auch Ulrich Hemel an, Direktor des
Weltethos-Instituts in Tübingen. „Der Beirat ist eine Besonderheit allerersten Ranges. Weltweit ist es das erste und einzige Mal, dass wir so eine zivilgesellschaftliche Plattform haben.“
Hemel und seine Kollegen beschäftigen sich wie Hagendorff mit den Themen Ethik und der Abschätzung von Technikfolgen. Mit Lukas Weber ist auch ein Vertreter der Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“dabei. Die Kernaufgabe ist die Diskussion von Forschungsanträgen, die von Forschenden der Universitäten Stuttgart und Tübingen und dem Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme gestellt werden können.
„Jetzt zünden wir die nächste Stufe der Rakete. Denn wir wollen den Forschern eine ethische Grundausbildung anbieten. Damit haben wir ein Pfund, mit dem wir wuchern können, indem wir ethische und soziale Fragen in die Forschung einbinden“, sagt Hemel.
Eine digitale Anwendung bemesse sich daran, ob sie Menschlichkeit fördere, sie hemme oder ihr sogar schade. Die KI sei eine gute Sache. Man könne mit ihr natürlich auch schreckliche Dinge anstellen. „Aber wir sind der KI nicht hilflos ausgeliefert. Wir können eine von der KI beeinflusste Welt auch steuern, obwohl wir nicht jede Einzelheit hinter der Steuerung verstehen.“