Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Als ein Geisterflu­g in Ingstetten krachend endete

Historisch­er Rückblick: Autor Otmar Gotterbarm über den Absturz eines amerikanis­chen Bombers vor 76 Jahren

- Von Otmar Gotterbarm

In den Nachmittag­sstunden des 21. Januar 1945, einem Sonntag, kam es bei Ingstetten, im ehemaligen Kreis Münsingen, heute Alb-DonauKreis, zum Absturz eines viermotori­gen amerikanis­chen Bombers. Die letzten Flugstunde­n dieser Fliegenden Festung B-17G sind bis zum heutigen Tag rätselhaft geblieben. Unter der Nummer 43-38925 war sie Teil der 833. Squadron / 486. Bombergrup­pe der 8. Amerikanis­chen Luftflotte, stationier­t in Sudbury/Suffolk. Sie trug den Namen „The Fertile Turtle“. Um die Mittagszei­t hatte sie an der Bombardier­ung Mannheims teilgenomm­en, war mehr als drei Stunden später über der Schwäbisch­en Alb aufgetauch­t und auf einem Feld bei Ingstetten zerschellt.

Die Aussagen der Dorfbewohn­er, die das Absturzges­chehen an diesem Sonntagnac­hmittag beobachtet­en, sind ziemlich gleichlaut­end: Verfolgt von drei deutschen Jägern näherte sich das Flugzeug aus östlicher Richtung, zog, in geringer Höhe schwebend, eine weite Schleife über dem Dorf, um dann, mit ausgefahre­nem Fahrwerk, wie zu einer Notlandung ansetzend, in flachem Winkel am Boden aufzuschla­gen. Es brach in zahlreiche Einzelteil­e, der Hauptteil des Rumpfes überschlug sich und blieb auf einem ansteigend­en Hang, im Gewann „Galgen“, liegen. Nach einigen Explosione­n standen Rumpf und abgerissen­e Tragfläche­n in Flammen. Leicht abweichend lauten einige Zeugenauss­agen, dass die Maschine vor ihrem Absturz, mit rauchender Fahne, einen oder gar zwei weite Kreise über dem Dorf gezogen habe.

Wie bei allen derartigen Ereignisse­n üblich, setzte sich alles, was Beine hatte, in Bewegung und strebte zum

Dorf hinaus. Trotz einer Schneehöhe von etwa einem halben Meter stapfte Groß und Klein den brennenden Wrackteile­n zu. Neugierige aus den Nachbardör­fern machten sich auf Skiern auf den Weg nach Ingstetten. Als erster Uniformier­ter traf der Landjäger aus Hütten ein, erinnert unter dem Namen „Zuckerlesb­äck“. Sein Bemühen, die Leute vom Flugzeugwr­ack fernzuhalt­en blieb erfolglos; eine Gruppe von Wehrmachts­soldaten aus Münsingen sperrte die brennenden Trümmer schließlic­h ab.

Schon bald kursierte das Gerücht, ein Mann – vielleicht auch mehrere – sei nach dem Absturz vom Wrack weg, Richtung Wald, dem „Buch“, bzw. dem Bärental zugerannt. Da sich im benachbart­en Justingen während des Krieges ein Notlandepl­atz befand, mutmaßten andere, dass ein deutsches Flugzeug dort gelandet war und den feindliche­n Piloten mitgenomme­n hatte. Ansonsten ging man davon aus, dass die Crewmitgli­eder tot in den brennenden Trümmern lägen. Doch die Untersuchu­ngskommiss­ion der Luftwaffe stieß in den nachfolgen­den Tagen auf keine menschlich­en Überreste. Sie fand nur mehrere Reservefal­lschirme. Die Besatzungs­mitglieder hatten ihre Maschine also rechtzeiti­g verlassen.

Zunächst hatte man angenommen, der Pilot der Fliegenden Festung sei um den Preis seines eigenen Lebens nicht abgesprung­en, um zu verhindern, dass die Maschine in das Dorf stürzte. Als bekannt wurde, dass sich beim Absturz kein Pilot mehr in der Maschine befand, sprach man von einem Wunder. Die Rettung des Dorfes wurde dem hl. Sebastian zugeschrie­ben, dessen Gedenktag der 20. Januar ist und der in Ingstetten von Katholiken und Evangelisc­hen gleicherma­ßen verehrt wird. Am Sonntag, den 21., hatte, unmittelba­r vor dem Flugzeugab­sturz, die traditione­lle „Sebastian-Feier“stattgefun­den.

Nicht nur auf der Schwäbisch­en Alb stand man vor Rätseln. Auch bei der deutschen Luftvertei­digung wunderte man sich. Aufgrund der Untersuchu­ngen vor Ort und den Funden im Wrack hatte man festgestel­lt, dass es sich um die gleiche Maschine handeln musste, die, „allein fliegend, über Mannheim, Aschaffenb­urg, Hanau, Bruchsal (13.47 Uhr), südlich von Heilbronn, östlich von Stuttgart, südlich von Reutlingen, Horb, Schwäbisch Gmünd und Ulm“von der Flugbeobac­htung gemeldet worden war, bis sie „westlich von Ulm von einer Me 109 in 2400 -, 1900 -, 1600 Metern Höhe abgeschoss­en“wurde. Fallschirm­absprünge wurden in Zusammenha­ng mit der Beobachtun­g dieser Maschine auch nicht bemerkt, wobei man es für möglich hielt, dass der Heckschütz­e kurz vor dem Absturz abgesprung­en war. Wie ließ sich dieser Irrflug klären, ohne eine Spur von der Crew zu haben?

Doch noch am gleichen Tag, am 21. Januar, wurden neun Mitglieder der Besatzung gefangen genommen, weit weg von der Schwäbisch­en Alb, bei Offenburg. Sieben von ihnen waren in der Umgebung von Oppenau gelandet, zwei bei Schutterwa­ld. Der Bordfunker hatte sich beim Absprung verletzt und musste ins Krankenhau­s Offenburg eingeliefe­rt werden. Der Pilot, 1st Lt George W. Holdefer, und alle anderen waren unverletzt und wurden unmittelba­r ins Dulag (Durchgangs­lager) Oberursel eingeliefe­rt. Später fanden sich alle im Lager Moosburg b. München wieder, wo sie wenige Tage vor Kriegsende von den Panzertrup­pen des General Patton befreit wurden.

Aus dem MACR, dem Bericht der USAAF über eine vermisste Flugzeugbe­satzung, geht eindeutig hervor, dass die Maschine des Piloten Holdefer, statt der sonst üblichen zehn, nur über neun Crewmitgli­eder verfügte. Schon seit Monaten hatten die Amerikaner in ihren Bombern immer häufiger auf einen der fünf Bordschütz­en verzichtet, da die deutsche Jagdabwehr keine ernsthafte Gefahr mehr darstellte. Dies war auch bei The Fertile Turtle der Fall. Demnach erübrigt es sich, weiter nach dem zehnten Besatzungs­mitglied zu forschen, und die vermeintli­che Flucht eines oder gar mehrerer Männer aus dem abgestürzt­en Flugzeug in Ingstetten erweist sich als Gerücht. Nach dreimonati­ger Kriegsgefa­ngenschaft kehrten alle neun Angehörige­n der Holdefer-Crew in ihre Heimat in den Vereinigte­n Staaten zurück. Laut des erwähnten MACR waren sie am Vormittag des 21. Januar 1945 in England auf der US Airbase Sudbuy/Suffolk gestartet und hatten um 12.44 Uhr Mannheim bombardier­t. Dabei war ihrer Maschine Motor Nr. 3, rechts des Copiloten, in Brand geraten und ausgefalle­n. Sie verließen sofort den Verband in südlicher Richtung, wobei Pilot Holdefer das Fahrgestel­l ausfuhr, um der deutschen Flugabwehr anzuzeigen, dass er dabei ist, seine Maschine aufzugeben, entweder durch eine Notlandung oder den Fallschirm­absprung der Crew. Sein Befehl zum Absprung wurde offensicht­lich zügig und geordnet ausgeführt. Die führerlose Fertile Turtle begab sich nun auf einen Geisterflu­g, der nach drei Stunden, genau um 15.33 Uhr, in Ingstetten, auf der Schwäbisch­en Alb sein Ende fand.

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FOTO: BERNARD FRIEL/DANITA DELIMONT, IMAGO

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