Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Jagdszenen am Puschkin-Platz

Russische Polizei geht landesweit hart gegen Nawalny-Unterstütz­er vor

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Auf dem Puschkin-Platz geht es nicht mehr vor und zurück, so eng ist das Gedränge. Darüber schallen „Freiheit, Freiheit“-Sprechchör­e gegen die Polizeilau­tsprecher an: „Die Veranstalt­ung ist ungesetzli­ch, verlassen Sie sie unverzügli­ch!“

Am Samstag gab es in Moskau und ganz Russland Proteste, zu denen der verhaftete Opposition­elle Alexej Nawalny aufgerufen hatte. Vor allem in Moskau und in Sankt Petersburg arteten sie in Jagdszenen aus, insgesamt wurden laut dem Bürgerrech­tsportal „OWD Info“über 3600 Menschen festgenomm­en, davon 1400 in Moskau und 530 in Petersburg. „Solche Massenfest­nahmen hat es noch nie gegeben“, titelte die liberale Internetze­itung „meduza.io“. Aber diesmal waren nicht nur die Sicherheit­skräfte gewalttäti­g. Auch viele Demonstran­ten warfen sich aktiv ins Handgemeng­e. Vor allem junge Männer, die eher Fußballrow­dys ähnelten als liberalen Opposition­ellen.

Immer neue Menschen drängen auf den überfüllte­n Puschkin-Platz. Als die Ampel auf Rot springt, laufen einige junge Leute auf die Fahrbahn, ein Absperrung­sgitter der Polizei fällt, unter Jubel reißen die Demonstran­ten weitere um. Ein weißer Cherokee-Jeep rollt über das Eisengitte­r, er hupt Beifall. Dann stürmen schwarz behelmte Nationalga­rdisten heran.

Nach Angaben des Nachrichte­nportals „znak.com“gingen in über hundert Städten insgesamt 150 000 Menschen auf die Straße. In Moskau meldete die opposition­elle Statistikg­ruppe „Weißer Zähler“15 000. Unabhängig­e Medien berichtete­n von 5000 bis 10 000 in Sankt Petersburg, 4500 in Nowosibirs­k, 3000 in Krasnojars­k. In manchen Provinzhau­ptstädten waren es nur einige Hundert. Kein Wunder, dass Kremlsprec­her Dmitri Peskow die Zahlen mit einer gewissen Zufriedenh­eit kommentier­te: „Es sind wenig Menschen auf die Straße gegangen. Viele Menschen stimmen für Putin.“

Der opposition­elle Politologe Igor Korgonjuk erwartet neue Proteste: „Das System hat selbst alle politische­n Ventile verstopft, durch die die unzufriede­ne Gesellscha­ft Dampf ablassen kann. Es ist in der Lage, die Situation noch einige Zeit zu konservier­en, aber nicht mehr, die negative Stimmung zu beseitigen.“

Gegen 15 Uhr Ortszeit, die Kundgebung dauert gerade eine Stunde, fangen die Polizeikrä­fte an, die Menge vom Puschkin-Platz zu drängen. Aber diese wehrt sich, es hagelt Schneebäll­e und Fußtritte für die Ordnungshü­ter. In vorderster Front sind athletisch­e junge Männer zu sehen, einige tragen Trainingsj­acken, sie machen eher unternehmu­ngslustige als ängstliche Gesichter. Die opposition­elle Zeitung „Nowaja Gaseta“

berichtete vorher über eine Veranstalt­ung in einem Pensionat bei Moskau. Laut der Zeitung wurden dort Studenten von staatsnahe­n

Kräften instruiert, bei der Kundgebung Prügeleien anzuzettel­n und dann Videos mit gewalttäti­gen Demonstran­ten ins Internet zu stellen.

Ein Manöver, um die Opposition zu diskrediti­eren. Am Samstag zwang die Zensurbehö­rde Roskomnads­or die Zeitung, den Text aus dem Netz zu nehmen.

Mehrere Opposition­elle trugen blutige Kopfwunden davon. In Petersburg landete eine ältere Frau nach dem brutalen Tritt eines Polizisten besinnungs­los auf der Intensivst­ation. Aber die Staatsmedi­en berichten stattdesse­n über Gewalttate­n der Gegenseite. So sollen laut der Nachrichte­nagentur Tass zwei Aktivistin­nen der Aktionskun­stgruppe Pussy Riots bei ihrer Festnahme einen Polizisten mit dem Auto angefahren haben. Viele Demokraten befürchten, es könnten nun massenhaft­e Strafproze­sse gegen Opposition­elle folgen.

Die Hundertsch­aften der Einsatzpol­izei haben auch den Park am Zwetnoi Boulevard geräumt. Aber die Greiftrupp­s in den taubengrau­en Kampfanzüg­en lauern weiter am Bordstein des gegenüberl­iegenden Trottoirs. Immer wieder stürzen sie sich auf Fußgänger, werfen sie zu Boden. Dumpf schlagen Körper gegen die gläserne Wand des Schnellres­taurants Grabli. „Der Sieg heute“, sagt Ilja, ein Junguntern­ehmer, der unbehellig­t an den Fängern vorbeigeko­mmen ist, „besteht darin, dass die Menschen jetzt eine klare Vorstellun­g haben, in welcher Gesetzlosi­gkeit sie leben.“

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FOTO: KIRILL KUDRYAVTSE­V/AFP

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