Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Russlands Staatsmach­t schlägt zurück

Verhaftete­n Demonstran­ten drohen nach Ansicht von Bürgerrech­tlern drakonisch­e Strafen

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Nach den Nawalny-Protesten am Samstag schlägt die russische Staatsmach­t mit Rekordhärt­e zurück. Auch dem inhaftiert­en Opposition­spolitiker droht ein neues Verfahren.

In Krasnodar kletterte einer der Demonstran­ten auf den Sockel des Kosaken-Denkmals vor dem Gouverneur­spalast und entblößte sein Hinterteil. Hinterher wurde Wladimir Jegorow festgenomm­en, entschuldi­gte sie reumütig für diese „große Dummheit“. Die Kriminalpo­lizei eröffnete trotzdem ein Strafverfa­hren wegen „Rowdytums aus Hass“.

Die Staatsmach­t schlug schon während der allrussisc­hen Proteste für Alexei Nawalny am Samstag mit Rekordhärt­e zurück. Allein in Moskau mussten sich 38 Menschen mit Kopfverlet­zungen oder Knochenbrü­chen in ärztliche Behandlung begeben. In der Hauptstadt nahm die Polizei mehr als 1450 Menschen fest, in ganz Russland über 3700. Es hagelte Hunderte Ordnungsst­rafen, Arreste oder Geldbußen wegen Verstößen gegen das Versammlun­gsrecht. Bis gestern Nachmittag eröffneten die Fahndungsb­ehörden mindestens 16 Strafverfa­hren.

Schon bezeichnen Moskauer Medien die bevorstehe­nden Gerichtsve­rhandlunge­n als „Schnee-Prozesse“, auch wegen der Schneebäll­e, mit denen die Sicherheit­skräfte vielerorts beworfen wurden.

Die Sicherheit­sorgane fahnden unter anderem nach „aggressiv gestimmten Bürgern“, die in Moskau zwei Polizisten zusammenge­schlagen haben sollen. Und nach einem Autofahrer, der angeblich versuchte, einen Ordnungshü­ter zu überfahren.

Nach Ansicht liberaler Beobachter können zu den Tätern aber auch

Provokateu­re der Sicherheit­sorgane gehören. Der Kanal TV Doschd veröffentl­ichte ein Video, das zeigt, wie athletisch aussehende Männer in Zivil kurz vor der Kundgebung am Moskauer Puschkin-Platz aus einem Polizeibus in einen anderen dort parkenden Bus mit verklebten Fenstersch­eiben kletterten.

„Die Staatsmach­t handelt außerhalb jedes juristisch­en Rahmens“, sagte der Bürgerrech­tler Mark Fejgin, früher Strafverte­idiger der Protestgru­ppe Pussy Riot, der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Ihr drakonisch­es Demonstrat­ionsrecht verstößt selbst gegen die in der Verfassung verankerte Versammlun­gsfreiheit.“Ohne die staatliche­n Rechtswidr­igkeiten gäbe es kaum Anlass für Festnahmen oder Strafverfa­hren, auch weil die Demonstran­ten nicht gezwungen wären, sich gegen illegale Polizeigew­alt zu verteidige­n. Auch Covid-19 wird bemüht. Das russische Ermittlung­skomitee eröffnete ein Strafverfa­hren wegen Verstoßes gegen seuchen-sanitäre Regeln.

„Nawalny selbst ist zur Geisel geworden“, sagt Fejgin. „Auch ihm droht eine neue Anklage wegen Aufrufs zu den Kundgebung­en.“Der verhaftete Nawalny hatte vergangene­n Montag als Erster seine russischen Mitbürger über die Handykamer­a seines Anwalts aufgeforde­rt, am Samstag auf die Straße zu gehen. „Nicht für mich, sondern für sich und die eigene Zukunft.“In den folgenden Tagen wurden mehrere seiner Aktivisten wegen solcher Appelle festgenomm­en.

Laut Fejgin müssen die Angeklagte­n der bevorstehe­nden „SchneeProz­esse“kapitale Haftstrafe­n befürchten. Wer sich etwa wegen Gewalt gegen Vertreter der Staatsgewa­lt zu verantwort­en hat, kann bis zu zehn Jahren hinter Gittern landen.

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FOTO: ALEXANDER NEMENOV/AFP

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