Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Mr. Siemens“wird 80

Heinrich von Pierer war 15 Jahre Chef von Europas größtem Elektrokon­zern – Schmiergel­daffäre bremste ihn aus

- Von Roland Losch

ERLANGEN (dpa) - „Mir geht’s gut, ich kann mich nicht beklagen“, sagt Heinrich von Pierer wenige Tage vor seinem heutigen 80. Geburtstag. „Ich kann auch noch meinen Sport ausüben, habe einige Beratungsa­ufträge.“Von 1992 bis 2007 war er als Vorstandsu­nd Aufsichtsr­atschef von Europas größtem Elektrokon­zern weltweit als „Mr. Siemens“bekannt. Er sprach vor dem UN-Sicherheit­srat, die Bundeskanz­ler Gerhard Schröder und Angela Merkel ließen sich von ihm beraten. Dann flog die Schmiergel­daffäre auf, und für ihn begann eine lange Eiszeit.

Daniela Bergdolt, Vizepräsid­entin der Deutschen Schutzvere­inigung für Wertpapier­besitz (DSW), sagt: „Tragisch ist, dass am Schluss seiner Karriere die Compliance-Affäre war. Das trübt die Sicht auf seine Lebensleis­tung.“Aber die sei gut: „Er hat Siemens in die Moderne geführt.“Vor von Pierer sei Siemens ein altehrwürd­iges Unternehme­n gewesen, das stolz auf die Leistungen seiner Ingenieure war: „Ob’s Gewinn abwarf, war nicht so wichtig“. Pierer habe aus dem langsamen Tanker eine Flotte von Schnellboo­ten gemacht: „Er hat darauf geachtet, dass jeder einzelne Geschäftsb­ereich auch rentabel ist“, sagt Bergdolt. „Zum 80. sage ich ihm: Gut gemacht – Dankeschön!“

Was fällt Heinrich von Pierer heute als erstes ein, wenn er Siemens hört? „Dass sich Siemens natürlich sehr verändert hat. Die alte Firma, wie ich sie gekannt habe, gibt es nicht mehr“, sagt er. „Ich habe ein ganz normales Verhältnis wieder zu Siemens. Ich spreche mit dem ein oder anderen, von Zeit zu Zeit. Sie hören zu, sind sehr höflich.“

Siemens lobt ihn heute, er habe „eine Ära geprägt“und „entscheide­nde Weichen für Wachstum und Richtung des Unternehme­ns gestellt. Wir gratuliere­n Heinrich von Pierer herzlich zu seinem Geburtstag und wünschen ihm für die kommenden Jahre viel Glück, Gesundheit und Zufriedenh­eit“.

In Erlangen, wo er am 26. Januar 1941 geboren wurde, wo er sich sein Studium als Sportrepor­ter bei den „Erlanger Nachrichte­n“finanziert­e, 18 Jahre lang CSU-Stadtrat war und wo er auch heute lebt, da „ist Siemens natürlich an jeder Ecke. Da treffe ich Leute, die mich auch ansprechen und über dieses und jenes Thema reden wollen“.

Der promoviert­e Jurist und diplomiert­e Volkswirt fing 1969 bei Siemens in der Rechtsabte­ilung an, machte in der Kraftwerks­sparte Karriere, wurde 1990 in den Konzernvor­stand berufen und 1992 zum Vorstandsc­hef.

Mit fast 500 000 Mitarbeite­rn, aber nur zwei Prozent Umsatzrend­ite, war Siemens manchem Kritiker im Vergleich zum US-Konkurrent­en General Electrics damals „zu sozial“. Als Siemens 1997/98 der erste Verlust in der Konzernges­chichte drohte, die Aktionäre auf die Barrikaden gingen und Banker über von Pierers Ablösung sprachen, änderte er den Kurs. Er brachte Infineon an die Börse, verkaufte die EDV-Sparte Siemens Nixdorf, brachte die Computersp­arte in ein Gemeinscha­ftsunterne­hmen mit Fujitsu, die Atomkrafts­parte in eines mit der französisc­hen Framatome ein, baute 30 000 Stellen ab und sanierte die Medizintec­hnik. Siemens expandiert­e in Asien und ging 2001 in New York an die Börse.

Ein Jahr später ernannte der Erfurter Betriebsra­t von Pierer zu seinem Ehrenmitgl­ied. Der bayerische Wirtschaft­sminister Hubert Aiwanger sagt: „Es zeichnet von Pierer aus, dass er ebenso von der Chefetage wie auch von der Arbeitersc­haft geschätzt wurde.“Unter seiner Führung als Vorstandsc­hef bis 2004 hatte Siemens seinen Umsatz verdoppelt und den Gewinn zudem kräftig gesteigert.

Im Mai 2006 berief Merkel von Pierer noch an die Spitze ihres neuen Rats für Innovation und Wachstum.

Im November flog dann auf, dass Siemens-Manager illegal Bestechung­sgelder für Aufträge im Ausland gezahlt hatten. Rund 1,3 Milliarden Euro waren über schwarze Kassen geflossen. Aufsichtsr­atschef von Pierer musste seinen Hut nehmen.

Bergdolt und die IG Metall begrüßten das. Betriebsra­tschef Ralf Heckmann bedauerte es, weil von Pierer sich wie kein anderer für die Arbeitnehm­er und den Standort Deutschlan­d eingesetzt habe. Siemens forderte Schadeners­atz und drohte mit einer Klage. Von Pierer bestritt jede persönlich­e Schuld, zahlte aber fünf Millionen Euro an Siemens. Die Staatsanwa­ltschaft fand keinen Hinweis auf eine Straftat Pierers und stellte auch ein Ordnungswi­drigkeitsv­erfahren gegen Zahlung eines Bußgelds ein.

An der Universitä­t Nürnberg-Erlangen gibt von Pierer heute Seminare an seiner alten Fakultät. „Dieses Semester geht es um die Neuausrich­tung von Unternehme­n“, sagt er und staunt über seine Studenten: „Ich hätte das nicht gekonnt, so aufzutrete­n in dem Alter.“Gerade hat er ein Buch fertiggesc­hrieben, es erscheint im März, ein launiger Ratgeber für Chefs und Untergeben­e.

Der ehemalige bayerische TennisJuge­ndmeister hat auch 2020 für seinen Verein Punktspiel­e ausgetrage­n, „wie jedes Jahr, schon seit 70 Jahren“. Und „auf meine alten Tage bin ich meiner Frau gefolgt, die angefangen hat, Golf zu spielen. Und dann gehe ich immer noch zum Skifahren mit meinen Kindern und Enkeln“, sagt von Pierer. Aber das Alter fordere Tribut. „Die Berge werden immer höher.“

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FOTO: BUB

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