Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Mehr Alkohol während der Pandemie
Die Corona-Krise drückt die Stimmung – Suchterkrankte Menschen werden rückfällig
LAICHINGER ALB/EHINGEN/REGION - Kontaktbeschränkung, Mehrfachbelastung und Ungewissheit: Die Corona-Pandemie hat suchtkranke Menschen und Berater vor neue Herausforderungen gestellt. Auch im Raum Alb-Donau-Kreis spüren Beratungsstellen, dass Menschen, die sich vom Alkoholkonsum verabschiedet hatten, wieder öfter zum Weinglas greifen. Und nicht nur sie: Auch Gelegenheitstrinker konsumieren während der Pandemie und dem damit einhergehenden Lockdown mehr Alkohol als sonst.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte bereits zu Beginn der Pandemie vor einer Zunahme von Alkoholund Drogenkonsum gewarnt. Wie nun das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim in Kooperation mit dem Klinikum Nürnberg ermittelte, hat sich diese Warnung bestätigt: Bei mehr als einem Drittel der Erwachsenen sei der Alkoholkonsum seit Beginn der Coronakrise gestiegen. Das geht aus den Ergebnissen einer anonymen OnlineUmfrage des Instituts hervor, wo 37,4 Prozent der rund 3200 Teilnehmer angeben „mehr oder viel mehr Alkohol“getrunken zu haben als zuvor. Die Erhebung sei zwar nicht repräsentativ, liefere aber dennoch wichtige Erkenntnisse über die Konsumgewohnheiten der Deutschen während des Lockdowns.
Markus Piott-Grimm, Leiter Suchtberatung der Suchtberatungsstelle der Caritas/ Diakonie Ulm-AlbDonau, stellt auch in seinem Tätigkeitsraum fest, dass sich der Lockdown auf seine Klienten immens ausgewirkt hat. „Diejenigen, mit denen wir während dieser Zeit in Kontakt standen, berichten von vermehrten Rückfälligkeiten innerhalb des Lockdowns
und dass sie tiefer ins Trinken hereingekommen sind.“Laut PiottGrimm haben zwar auch neue Menschen die Beratungsstelle aufgesucht, aber die allermeisten seien Menschen, die bereits in Behandlung waren und rückfällig geworden sind.
Warum manche Menschen zu einem regelmäßigen und hohen Alkoholkonsum neigen, erklärt der Ehinger Psychologe Andreas Groß im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“: „Der Alkohol bietet kurzfristig Vorteile: Er entspannt, ist angstlösend, man kommt in eine gute Stimmung und kann für eine Weile Probleme ausblenden. Vielleicht fühlt man sich auch mutiger und hegt nicht mehr so viele Ängste.“Gründe, die der Experte als „gute Gründe“beschreibt. Vorerst. Denn häufig folgen dieser kurzweiligen „Lösung“erhebliche Probleme und Schwierigkeiten. Und im Lichte der Pandemie ist die Belastung für die gesamte Gesellschaft noch einmal viel erheblicher geworden. „Die Pandemie hat Befürchtungen geweckt, zum Teil auch realistische – zum Beispiel, dass man selbst oder dass Angehörige krank werden könnten – dass man finanziell in Schwierigkeiten geraten könnte, aber auch allgemeine Zukunftssorgen. Und je nachdem wie man veranlagt ist, kann das schon Stress verursachen. Dann sucht man sich eben einen Ausweg und eine Form der Entlastung.“Der Experte weiß aus Erfahrung, dass Krisenzeiten immer Zeiten sind, in denen sein Telefon noch häufiger klingelt. Man dürfe nicht vergessen, dass das Risiko in besonderen Zeiten generell für alle Menschen gilt, aber manche dann eben doch ein höheres Risiko aufweisen.
In manchen Fällen habe der Alkoholkonsum aber auch nicht unbedingt zugenommen, erklärt PiottGrimm, sondern sei auch auffälliger und bemerkbarer geworden, weil es sich in die häusliche Umgebung verlagert habe. „Oft haben uns Angehörige angerufen, die sich über das Trinkverhalten ihrer Partner bisher nicht bewusst waren. Und im Lockdown, wo sie dann überwiegend zu Hause sind, haben sie bemerkt, wie oft und wie viel Alkohol eigentlich konsumiert wird“, so der Leiter.
Auch der Munderkinger Weinhändler Philipp Edel sieht, dass die tatsächlichen Privateinkäufe gestiegen, obgleich jegliche Einkäufe für Großveranstaltungen und Feste seit vergangenem Mai komplett weggebrochen sind. „Unser Einzelhandelsabsatz ist deutlich gestiegen und der Großhandelsabsatz liegt bei null. Dem Gefühl nach würde ich sagen, dass die Menschen nun mehr daheim trinken, weil alles andere außerhalb der Wohnung nicht erlaubt ist“, so Edel. Roswitha Denkinger, Geschäftsführerin des Weinhauses Denkinger, kann im Gegensatz zu Philipp Edel keinen erhöhten Alkoholbedarf feststellen: „Es wurde eigentlich dieselbe Menge wie in den vergangenen Jahren gekauft, nur höhere Qualität als sonst.“Es seien vor allem ihre Stammkunden gewesen, die ausgewähltere Liköre und Schnäpse bevorzugt hätten.
Für den Suchtberater PiottGrimm kann auch der Ausfall der öffentlichen Kontrolle als ein Faktor für die Zunahme des Alkoholkonsums gesehen werden: „Im Homeoffice fällt es keinem auf, wenn man morgens schon ein Glas Sekt oder eine Flasche Bier neben der Arbeit trinkt. Es sieht niemand, es riecht niemand. Man sitzt zu Hause und kann arbeiten und nebenbei tiefer ins Trinken verfallen.“So komme es auch vor, dass der Alkoholkonsum bereits am Morgen oder Vormittag beginne. Früher und häufiger als vor der Pandemie. Generell empfehlen PiottGrimm und sein Team, bei Suchtdruck sich aus dem Umfeld zu entfernen, die Suchtselbsthilfegruppe aufzusuchen oder mit Freunden und Angehörigen zu reden, um der Rückfälligkeit zu entkommen. Strategien, die wegen Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren während des Lockdowns nicht immer umsetzbar waren.
Piott-Grimm und seine Kollegen hatten bereits zu Beginn der Pandemie mit einer Zuspitzung der Situation gerechnet, weshalb sie eine telefonische Beratung als nützlich erachteten. Obgleich es in keiner Weise eine persönliche Beratung ersetzen kann: „Unsere Klienten haben erwähnt, dass ihnen der persönliche Kontakt zu uns fehlt und dass es ihnen wichtiger wäre, in die Beratungsstelle kommen zu können, um über ihre Probleme zu reden. Auch für uns ist es wichtig, face-to-face-Gespräche zu führen. Wir sehen die Klienten, wir sehen ihre Mimik und Gestik und ob sie etwas getrunken haben oder nüchtern sind.“Eine Beobachtung, die die Berater am Hörer nicht machen können. Im Juni nahm schließlich die Caritas Ulm-Alb-Donau ihr Beratungsangebot unter Hygienemaßnahmen wieder auf und wird, weil sie eine therapeutische Einrichtung ist, auch weiterhin vor Ort erreichbar sein.