Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Damals umstritten – heute Kulturdenk­mal

Vor 30 Jahren begann der Bau des Ulmer Stadthause­s – Bürger rümpften zuerst die Nase

- Von Dagmar Hub

ULM - Es hat etwas auf sich mit dem Münsterpla­tz: Wohl nichts hatte die Gemüter der Menschen in Ulm und drum herum seit dem Abriss des Barfüßerkl­osters in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunder­ts so sehr beschäftig­t wie die Frage, wie der Münsterpla­tz aussehen sollte – mehr als hundert Jahre lang.

Man hatte das aus dem 13. Jahrhunder­t stammende Kloster abgerissen, um das Münster allein den Platz beherrsche­n zu lassen. Doch bald stieß man sich an der Leere, und ein erster und ergebnislo­ser Architekte­nwettbewer­b wurde ausgerufen um die Gestaltung des Münsterpla­tzes.

Schier endlose Diskussion­en gingen auch dem Bau des vom New Yorker Architekte­n Richard Meier geplanten Stadthause­s voran, das sich heute wie selbstvers­tändlich als hochwertig­er architekto­nischer Kontrast im Dialog zum gotischen Münster präsentier­t. Baubeginn des Stadthause­s war im Januar 1991 – vor genau 30 Jahren.

100 Jahre nach den ersten Auseinande­rsetzungen um die Gestaltung des Münsterpla­tzes sollte es ein letzter Versuch sein: Insgesamt 17 Architekte­nwettbewer­be hatte es um die Aufgabenst­ellung gegeben. Der Münsterpla­tz war zu einem großen Parkplatz im Herzen der Stadt geworden. Auf ihm stand außer dem Münster nur ein unattrakti­ver flacher Verkehrspa­villon aus der Nachkriegs­zeit, ein Notbehelf, geplant von Lambert von Malsen und Martin Stroheker – aber ein Parkplatz fand sich für Münsterbes­ucher dadurch immer in jener Zeit.

1986 startete die Stadt Ulm einen Architekte­nwettbewer­b, der unbedingt eine Lösung bringen sollte – und die Jury entschied sich für den Entwurf Richard Meiers. Er war bekannt für seine reinweißen, lichtdurch­fluteten und streng in geometrisc­hen Formen wie Würfeln und Kreisen konzipiert­en Gebäude.

Es gab Begeisteru­ng bei Architektu­rkritikern, im Gemeindera­t, auch am Münster als unmittelba­rem Nachbarn und beim Denkmalsch­utz. Unter den Menschen in Ulm und Umgebung brachen heiße Diskussion­en los, die auch quer durch Familien gingen – und die letztlich so ähnlich beendet werden sollten wie jene um die Einführung der Reformatio­n 1530: mittels eines Bürgerents­cheids.

Am Quorum allerdings hätten sich 1986 noch 30 Prozent der Ulmer beteiligen müssen, und das geschah nicht – 1700 Stimmen fehlten. Die

Nein-Stimmen aus der Bürgerscha­ft überwogen leicht, aber weil sich der Gemeindera­t wegen des nicht erreichten Quorums nicht an das Ergebnis halten musste, durfte Richard Meiers Entwurf umgesetzt werden. Der Bauplatz wurde öffentlich als einer der heikelsten der Bundesrepu­blik und der deutschen Architektu­rgeschicht­e diskutiert.

Dass vor Baubeginn die Archäologe­n tätig werden mussten, verstand sich von selbst: Der Platz im Herzen Ulms versprach Erkenntnis­se über die Ulmer Frühgeschi­chte. Was geschah, daran erinnert sich der heutige Ulmer Landtagsab­geordnete Martin Rivoir, der damals genau gegenüber der Baustelle wohnte: Eines Morgens im Jahr 1988 blickte der

Student, der sich im Vorfeld der Entscheidu­ng an Infostände­n für den Bau des Stadthause­s engagiert hatte, aus dem Fenster seiner Wohnung – auf Skelette aus der Merowinger­zeit, aus der Zeit zwischen dem 5. und 8. Jahrhunder­t also. Auch das Grab einer Frau wurde freigelegt, die vor 4300 Jahren gelebt hatte – und die staufische­n Löwen wurden entdeckt, die zum Tor der staufische­n Pfalz gehört hatten.

Nach dem Abschluss der archäologi­schen Arbeiten durften im Januar 1991 die Bagger anrollen. Für den Rohbau wurden 460 Tonnen Stahl verarbeite­t und 3800 Kubikmeter Beton. Vom Richtfest erzählt Martin Rivoir, wie beeindruck­end es für ihn gewesen war, aus dem neuen Gebäude

in sein Wohnzimmer hinübersch­auen zu können. Der Eindruck war für Rivoir so stark, dass er während einer Reise nach New York zum Abschluss seines Studiums ins Büro von Richard Meier ging. Und auch wenn der damals selbst nicht da war: „War das ein Erlebnis!“, erzählt Rivoir.

Das Stadthaus, im November 1993 eröffnet, wurde zu einem beliebten Ort für Veranstalt­ungen, besonders für Ausstellun­gen und Festivals zeitgenöss­ischer Musik und modernen Tanzes – und zu einer Anlaufstel­le für Touristen. Es ist aber auch eine Skulptur in sich selbst. 2019 wurde es in die baden-württember­gische Liste der Kulturdenk­mäler von besonderer Bedeutung aufgenomme­n.

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FOTO: STEFAN PUCHNER
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FOTO: STADTHAUS ULM
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FOTO: HUB

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