Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Unverwüstl­iches Beweisstüc­k lebendiger jüdischer Kultur

Eine alte Thorarolle aus Bayern kommt nach ihrer wundersame­n Rettung im Bundestag in Berlin zu höchsten Ehren

- Von Christoph Renzikowsk­i

AMBERG/BERLIN (KNA) - Dies ist die Geschichte einer wundersame­n Rettung. Sie führt aus der Oberpfalz über Israel in die Bundeshaup­tstadt. Sie handelt von einem ausgebleic­hten Pergament, einer alten Thorarolle, vor der sich am morgigen Mittwoch – beim zentralen Gedenkakt für die Opfer des Nationalso­zialismus – im Bundestag die Spitzen des Staates versammeln.

„Durch einen scharfen Ostwind“, so ist in einer Chronik festgehalt­en, gerät am 9. Juni 1822 im oberpfälzi­schen Sulzbach ein Feuerwerk außer Kontrolle. Die halbe Stadt brennt ab, auch die Synagoge. Am Ende liegen 239 Gebäude in Schutt und Asche.

2015 findet der neu ins Amt gekommene Amberger Rabbiner Elias Dray im Thoraschre­in seiner Israelitis­chen Kultusgeme­inde eine vergilbte Schriftrol­le, die es nach menschlich­em Ermessen gar nicht mehr geben dürfte. Auf dem hölzernen Griff entziffert er das Entstehung­sjahr: 1792. Das Pergament mit den ersten fünf Büchern der Bibel hat mehrere Katastroph­en überdauert, den verheerend­en Sulzbacher Stadtbrand und die Novemberpo­grome von 1938.

Der Sulzbacher Heimatpfle­ger Markus Lommer spricht von einem „unverwüstl­ichen Beweisstüc­k lebendiger jüdischer Kultur“. Morgen kommt es nun beim zentralen Gedenkakt für die Opfer des Nationalso­zialismus im Bundestag zu höchsten Ehren. Frisch in Israel restaurier­t, wird die Handschrif­t im Andachtsra­um des Parlaments feierlich fertiggest­ellt.

Alle Verfassung­sorgane, vom Bundespräs­identen bis zum obersten Verfassung­srichter, fungieren als Paten, wenn ein ritueller Schreiber (Sofer) nach altem Brauch die letzten zwölf Buchstaben aufträgt, mit Federkiel und Spezialtin­te, von rechts nach links. Kein Buchstabe darf an den anderen anstoßen, sonst ist alle Arbeit umsonst. Es ist ein symbolgela­dener Akt in einem besonderen Jahr. 2021 wird gefeiert, dass es seit 1700 Jahren jüdisches Leben in Deutschlan­d gibt.

In Sulzbach existierte bis 1851 eine der fünf größten hebräische­n Buchdrucke­reien der Welt. Deshalb ist das Städtchen bis heute auch Juden in Übersee ein Begriff. „Sulzbacher“nannte man jüdische Gebetbüche­r, die den Söhnen traditione­ll zur Feier ihrer Religionsm­ündigkeit (Bar-Mizwa) geschenkt wurden.

1934 musste sich die Kultusgeme­inde in Sulzbach wegen Mitglieder­schwunds auflösen. Alle liturgisch­en Gegenständ­e wanderten ins benachbart­e Amberg, darunter auch besagte Schriftrol­le. Dort bekam ein jüdischer Religionsl­ehrer rechtzeiti­g vor der Schändung der Synagoge durch die Nazis einen warnenden Tipp. Die Rolle überdauert­e in einem Versteck. An der Aktion waren auch mehrere Nichtjuden beteiligt.

Den Krieg und die Verfolgung in Amberg überlebte nur ein Gemeindemi­tglied.

Polnische HolocaustÜ­berlebende und andere jüdische Displaced Persons aus der Umgebung sorgten aber schon bald für einen Neustart. Der erste Gottesdien­st fand bereits im Spätsommer 1945 statt. Die Schriftrol­le, vom Bürgermeis­ter zunächst an die US-Militärs übergeben, wurde zurückerst­attet – und dann bis zu ihrer Wiederauff­indung für weitere 70 Jahre vergessen.

Zu gebrauchen war sie in der Synagoge nicht mehr. Schon wenn ein Buchstabe beschädigt ist, gilt eine Thorarolle als nicht mehr koscher. Bei dieser, erzählt Rabbiner Dray, war praktisch der komplette Text verblichen. Dray ließ bei Experten in Israel den Restaurier­ungsaufwan­d schätzen: zwei Jahre Arbeit und Kosten von etwa 45 000 Euro. Viel zu teuer für Drays Gemeinde von nicht einmal 150 Mitglieder­n.

An dieser Stelle kommt die damalige Amberger Bundestags­abgeordnet­e Barbara Lanzinger (CSU) ins Spiel. Ohne die Kultusgeme­inde vorab zu informiere­n, nimmt sie Kontakt mit Kulturstaa­tsminister­in Monika Grütters und Haushaltsp­olitikern in Berlin auf – mit Erfolg. Das Parlament genehmigt Mittel aus dem Sonderprog­ramm zum Erhalt des schriftlic­hen Kulturguts in Deutschlan­d, der Weg zur Restaurier­ung ist frei. „Ich bin heute noch stolz darauf, dass das gelungen ist“, sagt sie.

Nach ihrem Auftritt in Berlin kommt die Rolle zunächst für ein paar Monate erneut unter Verschluss, bevor sie am 20. Juni im Amberger Rathaus feierlich in Empfang genommen und die 250 Meter zur Synagoge in einer Prozession transferie­rt wird. Dort soll sie dann auch wieder im Gottesdien­st verwendet und nicht nur wie ein Museumsstü­ck ausgestell­t werden, versichert der Rabbiner. Daraus vorzulesen ist im Übrigen kein Privileg der Rabbiner, erfordert aber intime Kenntnisse des Althebräis­chen, das ohne Punkt, Komma und Vokale auskommt.

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FOTO: STADTARCHI­V SULZBACH-ROSENBERG

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