Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Von der Leyen räumt Fehler beim Impfstoff ein
EU-Kommissionschefin gesteht falsche Einschätzung bei der Beschaffung – Taskforce soll Abhilfe schaffen
BRÜSSEL - Selbstkritisch trat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) am Mittwoch vor das Europäische Parlament. „Wir waren spät dran bei der Zulassung. Wir waren zu optimistisch bei der Massenproduktion. Und vielleicht waren wir uns auch zu sicher, dass das Bestellte tatsächlich pünktlich geliefert wird“, räumte sie ein. In Polen seien aber bereits 94 Prozent des medizinischen Personals und 80 Prozent der Altenheimbewohner geimpft, in Italien sogar vier Prozent der Gesamtbevölkerung. In Deutschland liegt dieser Wert bei rund drei Prozent. Europa stehe im internationalen Vergleich also nicht schlecht da.
Von der Leyens deutsche Parteifreunde stützen diese Sicht der Dinge. Es hat sich aber bis Brüssel herumgesprochen, dass Deutschland ein Superwahljahr vor sich hat und manche Aussage mehr der Wählerals der Wahrheitsfindung dient.
Dacian Ciolos, Chef der liberalen Fraktion, mahnte eine engere Beteiligung des Europäischen Parlaments an. Die von Ursula von der Leyen vorgeschlagene neue Kontaktgruppe aus Vertretern von Kommission und Parlament könne nur Vertrauen wiederherstellen, wenn sämtliche Informationen über den Inhalt der Verträge mit den Pharmafirmen und das Ausmaß der Lieferprobleme offengelegt würden.
Ciolos begrüßte, dass eine neue Taskforce unter Führung von Industriekommissar Thierry Breton die Stolpersteine bei der Massenproduktion von Impfstoffen aus dem Weg räumen soll. Diese Taskforce müsse sich aber auch um die längerfristigen Ziele kümmern: „Den Aufbau einer vollständig unabhängigen, europäischen und funktionsfähigen Impfindustrie.“
Wie wichtig dieser Aspekt ist, zeigt der kurz vor der Zulassung stehende Impfstoff von Johnson & Johnson. Er wird zwar in der EU produziert, aber in den USA abgefüllt. Ein
Kommissionssprecher sagte gestern, man „hoffe“, dass die von der EU bestellten Dosen trotz des in den USA verhängten Exportverbots nicht dort zurückgehalten werden.
Peter Liese, gesundheitspolitischer Sprecher der Konservativen im Europaparlament, verteidigte die EU-Kommission und damit auch seine Parteifreundin von der Leyen. Der Vertragsabschluss über die Impflieferungen habe sich verzögert, weil die Pharmafirmen sich lange geweigert hätten, die Haftung für Impfschäden zu übernehmen. „Ich habe noch niemanden getroffen, der sagt, es sei eine gute Sache, wenn sich europäische Bürgerinnen und Bürger vor europäischen Gerichten nicht dagegen wehren können, wenn eine Firma einen Fehler macht und sie dadurch zu Schaden kommen.“Es sei ferner unwahr, dass die EU weniger investiert habe als beispielsweise die USA. Die ständig genannten 2,7 Milliarden Euro seien lediglich der Anteil aus dem Europäischen Strukturund Investitionsfonds. Nehme man die von den Mitgliedsländern für die bestellten Impfdosen gezahlten Beträge hinzu, könne man sehen, „dass die Europäische Union gemeinsam über 22 Milliarden Euro für die Impfstoffversorgung ausgibt.“
Ein Sprecher der EU-Kommission hatte erneut betont, dass die Behörde mit sechs Herstellern Vorkaufsvereinbarungen über insgesamt 2,3 Milliarden Impfdosen geschlossen hat.
Natürlich stehe es jedem Mitgliedsstaat frei, zusätzlich bei anderen Herstellern anzufragen. Das in Russland produzierte Vakzin Sputnik zum Beispiel sei nicht Teil der EU-Impfstrategie, da es nicht an Standorten innerhalb der EU produziert werde. Aus europäischen Produktionsquellen erwarte man mittelfristig mehr als genug für alle Europäer, sogar für eine mögliche Nachimpfung gegen Mutationen. Parallelverhandlungen mit Herstellern brächten nur Chaos.
Von dieser Warnung zeigen sich osteuropäische Regierungschefs unbeeindruckt. Tschechiens Premierminister Andrej Babis reiste gestern nach Serbien, um sich vor Ort über das dort verwendete Sputnik-Vakzin zu informieren. In Ungarn wird der – in der EU nicht zugelassene – chinesische Impfstoff Sinopharm verimpft. Mehrere EU-Abgeordnete warnten die Kommission davor, die geostrategischen Aspekte dieser Vorgänge, die Ausmaße eines wahren Impfkrieges angenommen hätten, zu vernachlässigen.
Die konservative niederländische Abgeordnete Esther de Lange mahnte, für die nächste Gesundheitskrise müsse sich Brüssel deutlich besser rüsten. Zu harsche Kritik sei aber unfair, da Ursula von der Leyen im Krisenmodus von Tag zu Tag entscheiden müsse. Da gelte das alte niederländische Sprichwort: „Die höchsten Bäume bekommen den heftigsten Wind ab.“