Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Die Mordnacht von Penzberg
Jugendbuchautorin Kirsten Boie zeigt in „Dunkelnacht“, dass Fanatismus jeden treffen kann
Die Schriftstellerin Kirsten Boie ist mit locker-leichten Büchern für Kinder und Jugendliche bekannt geworden. Doch auch ernste Jugend- und Erwachsenenliteratur kommt aus ihrer Feder. Nun hat sie sich ein düsteres Kapitel der Nazizeit vorgenommen.
Schon von der ersten Seite an stellt sich beim Lesen von Kirsten Boies neuem Jugendbuch ein zutiefst beklemmendes Gefühl ein. In „Dunkelnacht“beschreibt die Hamburger Schriftstellerin aus der Sicht von drei Jugendlichen die grausame Penzberger Mordnacht. Die wahre Geschichte hat sich am 28. April 1945 in der oberbayerischen Stadt 50 Kilometer südlich von München zugetragen. Mehr als ein Dutzend Menschen starben durch die Hand fanatischer Hitler-Anhänger, obwohl die amerikanischen Soldaten und damit der lang ersehnte Frieden schon vor den Toren der Stadt standen.
Boie („Möwenweg“, „Der kleine Ritter Trenk“) orientiert sich im Buch an den Fakten. Namen, Zitate, Zeitabläufe sind authentisch. Fiktiv sind die drei Teenager, die das Grauen in ihrer eigenen Heimat erleben und dabei auch mit ihren eigenen, ebenfalls von Naziparolen beeinflussten Gedanken konfrontiert werden.
Die Geschichte in der Geschichte: Schorsch und Marie sind mitten in den Kriegswirren ein bisschen verliebt ineinander. Er ist der Sohn des Polizeichefs, sie die Tochter des örtlichen Metzgers. Verliebt in Marie ist auch Gustl. Der ist leidenschaftlicher Anhänger der nationalsozialistischen Untergrundbewegung „Werwolf“. Und dann kommt der blutige 28. April.
Der 70-jährigen Boie war es ein Bedürfnis, das Thema anzugehen. „Wir erleben schon seit Jahrzehnten, dass für Jugendliche das Thema Nationalsozialismus und alles, was damit zusammenhängt, vollkommen uninteressant wird. Dass sie sich genervt fühlen und leider inzwischen auch, dass sie durchaus eine Menge Aspekte bewundern. Ich finde, das ist eine einigermaßen beängstigende Situation.“Sie möchte nach eigenen Aussagen den jungen Lesern vor allem zeigen, dass es am Ende eben jeden treffen konnte, unabhängig von Religion, Geschlecht, sexueller Neigung, Herkunft und politischer Einstellung.
Die Geschichte habe gezeigt, wozu „vollkommen durchschnittliche, oft liebenswerte, freundliche Menschen, Familienväter und Klarinettenspieler“in besonderen
Situationen tatsächlich fähig sind, sagt Boie. „Das zeigt: Es wäre auch heute vorstellbar. Und wir müssen vorsichtig sein und wir dürfen das nicht vergessen.“Die einstige Lehrerin hätte deshalb nichts dagegen, wenn ihr Buch im Schulunterricht genutzt werden würde.
Zunächst wollte sie die Verbrechen nach Schleswig-Holstein verlegen, „weil ich mich da am besten auskenne“. Je tiefer sie grub, desto klarer wurde ihr jedoch, dass die Geschichte authentisch bleiben sollte. „Die Beglaubigung, dass es das wirklich gegeben hat, die spielt gerade für Jugendliche eine große Rolle. Dann erreicht man Jugendliche auf eine ganze andere Weise, als wenn man eine fiktive Geschichte erzählt.“
Recherchiert hat Boie mithilfe des Archivs der Stadt und einer Dokumentation des Prozesses zur Mordnacht, der 1948 in der Stadt stattgefunden hat. „Die Aussagen all der Menschen, die beteiligt waren, und der vollkommen unterschiedliche Blick auf die Geschehnisse – das war schon sehr beeindruckend.“Und intensiv.
In Penzberg selbst war die Hamburger Ehrenbürgerin verblüfft, dass dieser tragischen Mordnacht vergleichsweise wenig sichtbar gedacht wird. „Es gibt keine Plakette, es gibt keine Stolpersteine. Es gibt ein paar Straßennamen – aber die Namen sagen ja einem Fremden nichts und es gibt keine erklärenden Schilder.“Die Stadt verdränge oder verstecke den Teil ihrer Geschichte nicht, aber „es wird nicht so nach außen getragen, wie beispielsweise im Hamburger Grindelviertel“. Dabei könne die Stadt doch auch stolz sein auf die Männer, die sich den Nazis entgegengestellt haben und dafür mit ihrem Leben gebüßt haben.
Penzbergs Bürgermeister Stefan Korpan (CSU) findet es gut, dass sich Boie mit dem „sehr bedeutenden und düsteren Kapitel der Geschichte Penzbergs“befasst. 2005 seien alle 16 Mordopfer zu Ehrenbürgern der Stadt ernannt worden. Das sei auch nötig: „Fremdenfeindlichkeit und mangelnde Integration entwickeln eine bedrohliche Dynamik und der Flüchtlingsstrom hält an. Hier gilt es gegenzuhalten. Dieses Buch kann aus meiner Sicht mit dazu beitragen, eine neue Generation für die Penzberger Geschichte zu interessieren und sich für eine wehrhafte Demokratie einzusetzen.“(dpa)
Kirsten Boie: Dunkelnacht, Oetinger Verlag, 112 Seiten, 13 Euro.