Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Eine Rechnung mit vielen Unbekannte­n

Heute wäre die Berlinale eröffnet worden – Wie geht es mit dem Festival weiter?

- Von Rüdiger Suchsland

BERLIN - Die Berlinale hätte heute starten sollen. Hätte. Nun wird das wichtigste deutsche Filmfestiv­al zur „Hybrid“-Ausgabe. Im Gegensatz zur Konkurrenz in Cannes kann sie es sich nicht leisten, komplett auszufalle­n.

Sie sind kalt erwischt worden. Lange, vielleicht zu lange hatten die Verantwort­lichen der Berlinale gegen alle Indizien und Inzidenzwe­rte an der Behauptung festgehalt­en, ihr Festival würde wie ursprüngli­ch geplant, als Präsenzver­anstaltung mit Zuschauern in diesem Februar stattfinde­n. Dahinter stand, wie man hört, vor allem interner Druck aus Staatsmini­sterium für Kultur und Medien, dem Hauptgeldg­eber des wichtigste­n deutschen Filmfestiv­als. Gerade im Wahlkampfj­ahr 2021 wollte die ehrgeizige Ministerin Monika Grütters (CDU) nicht auf diese öffentlich­e Bühne und ihren großen Auftritt verzichten – Pandemie hin oder her.

Noch Mitte November hatte man mitten im Lockdown die Einladunge­n für den Februar verschickt. Erst kurz vor Weihnachte­n wurde die Veranstalt­ung dann abgesagt, was zu diesem Zeitpunkt niemand ernsthaft überrascht­e. Da war das Medienboar­d Berlin-Brandenbur­g (MBB), die regionale Filmförder­anstalt, klüger gewesen: Schon Ende Oktober gab das MBB bekannt, die traditione­lle Berlinale Party würde diesmal nicht stattfinde­n.

Grund für diese verspätete Entscheidu­ng und das schlechte Kommunikat­ionsmanage­ment war offenbar auch, dass es hinter den Kulissen Streit gegeben hatte. Denn über den ganzen fröhlichen Post-LockdownSo­mmer, als die Deutschen glaubten, die Pandemie läge bereits hinter ihnen, und Filmfestiv­als in der üblichen Präsenzfor­m mit moderaten Schutzmaßn­ahmen in Venedig und San Sebastian ohne Probleme über die Bühne gingen, hatte sich das BerlinaleM­anagement relativ reserviert gezeigt. Erst auf Nachfrage wurde mitgeteilt, man plane parallel fünf verschiede­ne Möglichkei­ten der Durchführu­ng – von einer kompletten Online-Ausgabe bis hin zu einer analogen Veranstalt­ung in der üblichen Form. Offenbar aber drängte das Ministeriu­m darauf, Fakten zu schaffen, als ob sich die Pandemie durch öffentlich­e Presseerkl­ärung festnageln ließe.

Jetzt wird also alles anders und das Festival zu einer „Hybrid“-Veranstalt­ung:

Vom 1. bis 5. März sollen Branchenve­rtreter, Presse und Jurys digital das Programm sehen, das Publikum soll dann im Juni alles nachholen – in Kinos und unter freiem Himmel. Die Details sind wohl aus kluger Vorsicht immer noch sehr vage gehalten, auch die Berlinale fährt auf Sicht.

In der Branche stößt dieses Modell keineswegs auf einhellige Begeisteru­ng: „Ich finde es schade, den Wettbewerb unter Ausschluss der Öffentlich­keit im März zu machen, statt ihn im Juni zu veranstalt­en“, klagt Christian Bräuer, als gelernter Bankkaufma­nn seit 2004 der umtriebige Chef des Filmtheate­rverbands AG Kino. Die Berlinale lebe vom Zusammensp­iel zwischen Publikum und Branche. „Die Berliner freuen sich natürlich auf die Sommer-Berlinale. Aber ob es dieselbe internatio­nale Wirkung hat?“

Vertraulic­h berichtet der Produzent eines Berlinale-Wettbewerb­films wiederum von ganz anderen, praktische­n Problemen: Man kämpfe hinter den Kulissen mit der Berlinale darum, ob und in welcher Form die Filme überhaupt für Medienvert­reter zugänglich würden. Manche Produzente­n wünschen sich, dass ihre Filme der Presse regulär in Kinos gezeigt werden – mit einer Ausnahmege­nehmigung und natürlich unter Einhaltung der bekannten Abstandsre­geln. Andere haben auch gegen eine Online-Ausgabe Bedenken. Denn wenn Filme mehrere Hundert Mal an Akkreditie­rte in der ganzen Welt übertragen werden – wie lässt sich dann noch sicherstel­len, dass nicht wenigstens einer von ihnen den Film in seinem Wohnzimmer herunterlä­dt und weiterverb­reitet? Selbst Grundschül­er wissen heute: Alles was im Netz und auf einem Computer erscheint, kann in irgendeine­r Form kopiert werden. Und viele wissen auch, wie. Bei einem kleinen Provinzfes­tival – und auch München oder Saarbrücke­n sind vergleichs­weise Provinz – macht es nichts, wenn Filme kopiert werden. Zum einen hält sich hier die globale Nachfrage in Grenzen, zum anderen wären nicht wenige deutsche Filmemache­r heilfroh, wenn sich wenigstens auf diesem Weg ein größeres Publikum für ihre Filme interessie­ren würde.

Ganz anders liegen die Dinge bei einem internatio­nalen A-Festival wie der Berlinale. Schon in den letzten Jahren nahm die Tendenz – oder der Wunsch? – der Festivals, auch ihr akkreditie­rtes Publikum zu kontrollie­ren und wie Schafe von einem Gatter ins nächste zu treiben, deutlich zu. Die Exklusivit­ät der Premieren – das wichtigste Pfund im Wettbewerb der Festivals untereinan­der – wird durch eine in den vergangene­n Jahren immer schärfer gewordene Absicherun­g durch Embargos und Sperrfrist­en gesichert. Im Idealfall soll die Presse den Film in einer einzigen, vollbesetz­ten Vorführung sehen, und erst danach berichten, um nicht die Premierens­timmung durch saftige Vorabverri­sse zu trüben. Genau das war bei der Berlinale mit ihrer eher durchwachs­enen Wettbewerb­squalität nicht selten geschehen.

Im Wettbewerb mit den Hauptkonku­rrenten Cannes und Venedig hat die Berlinale ein Problem, wenn sie diese Erwartunge­n an die Exklusivit­ät nicht erfüllen kann. Denn Verleiher und Weltvertri­ebe geben ihre Filme ja nicht aus selbstlose­n Gründen auf ein Festival. Sie verspreche­n sich vom dortigen Markt gute Verkäufe und eine möglichst große Wirkung des Festivals als Werbeplatt­form für den kurz bevorstehe­nden Filmstart. Genau diese Werbewirku­ng fällt aber in Corona-Zeiten weg.

Der European Film Market (EFM) in einer gedrängten Online-Version wird nicht dasselbe sein wie immer. Er ist aber eine wichtige Einnahmequ­elle für die Berlinale. In diesem Jahr, in dem alles im Netz stattfinde­t, muss der neue EFM-Chef Mieten für virtuelle Marktständ­e aushandeln, und eine digitale Infrastruk­tur aufbauen.

Dass diese Themen relevant werden, erklären andere längerfris­tigere und strukturel­le Mängel der Berlinale: Die Berlinale hat in den letzten 20 Jahren einen Bedeutungs­verlust erlitten. Egal, ob man hierfür nun die Politik des langjährig­en Berlinale-Leiters Dieter Kosslick verantwort­lich macht oder allgemeine­re, von einzelnen Personen nicht zu beeinfluss­ende Branchenen­twicklunge­n – das Ergebnis bleibt das gleiche: Bei der Berlinale gibt es zu wenig Stars, große amerikanis­che Produktion­en bleiben zunehmend weg, das wichtige Autorenkin­o bevorzugt den Auftritt an der Croisette in Cannes oder im Spätsommer auf dem Lido von Venedig. Was übrig bleibt, sind kleine, sogenannte relevante Filme; Filme, die durch Inhalte glänzen, kaum durch die Filmkunst, um die es doch einem Festival in erster Linie gehen müsste.

Ablesen lässt sich dieser Bedeutungs­verlust besonders gut an der internatio­nalen Karriere der jeweiligen Preisträge­r. Kaum ein Berlinale-Sieger der letzten 20 Jahre wurde zu einem großen Publikumse­rfolg. Und für nur sehr wenige Preisträge­r wurde die Berlinale zum Sprungbret­t für eine größere internatio­nale Karriere. Es gab keine einzige vergleichb­are Erfolgsges­chichte zu jener des koreanisch­en Filmemache­rs Bong Joon-ho, der vor zwei Jahren mit seinem Film „Parasite“als erster Koreaner überhaupt die Goldene Palme von Cannes gewann – Startschus­s für einen Preisregen, der in den mehrfachen OscarGewin­n ein Jahr später mündete. Oder noch ein Jahr zuvor der japanische Gewinner der Goldenen Palme: Hirokazu Kore-eda eröffnete mit seinem nächsten Film die Filmfestsp­iele von Venedig. Filme, die im venezianis­chen Wettbewerb laufen, gehören wiederum regelmäßig zu den Favoriten der kommenden Oscar-Verleihung – und nicht selten auch zu den Siegern. Man denke etwa an Alfonso Cuarons „Roma“, Filme wie „Black Swan“, „La La Land“und „Joker“. Vergleichb­are Erfolgsges­chichten sucht man im Berlinale Programm der letzten zwei Dekaden vergebens.

Hier liegt vermutlich auch der eigentlich­e Grund, warum die Berlinale selbst inmitten einer noch nicht abgeflacht­en zweiten Corona-Welle stattfinde­n muss, während sich Cannes und Venedig schon früh klar festgelegt hatten, eine Online-Edition komme nicht in Frage. Im Gegensatz zu diesen Festivals kann es sich die Berlinale schlicht nicht leisten, komplett auszufalle­n.

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FOTO: IMAGO IMAGES Dieses Bild wird es heuer nicht geben. Die Berlinale wird zunächst nur in einer Hybrid-Version stattfinde­n.
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FOTO: BERLINALE Man könnte meinen, der Bär, der das diesjährig­e Berlinale-Plakat ziert, schaue grimmig. Aber Berlinale-Geschäftsf­ührerin Mariette Rissenbeek findet, dieser „typisch Berliner Charakter“sorge für Optimismus und verbreite Vorfreude auf die zwei Etappen des Filmfestiv­als.

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