Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Der Big Mac vom Knödelplatz
Wichtigster deutscher Architekturpreis für Münchner Multifunktionspreis
Das Deutsche Architektur Museum in Frankfurt (DAM) hat sich bei der Verleihung seines Architekturpreises in diesem Jahr auf Bauten konzentriert, die sich durch neuartige Nutzungskonzepte auszeichnen. Sie bringen unterschiedliche, ja wechselnde Nutzer unter ein Dach und können deren Platzbedarf variieren.
So geht der erste Preis an ein Gebäude auf dem ehemaligen PfanniGelände neben dem Münchner Südbahnhof, das seit einigen Jahren für neue Nutzungen erschlossen wird. Auch der neue Konzertsaal für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist hier vorgesehen. Bislang dreht sich auf diesem Grundstück noch ein Riesenrad. Etwas entfernt davon, am zentralen Knödelplatz, steht bereits – quadratisch-praktisch – das preisgekrönte Gebäude. Es ist die domestizierte Variante des poppigen niederländischen Pavillons, der auf der Expo 2000 in Hannover zu sehen war und nach Art eines Big Mac mehrere Nutzungsschichten übereinander türmte. Das Rotterdamer Büro MVRDV hat nun die knalligen Elemente weggelassen, aber die Erschließung des Gebäudes durch Außentreppen beibehalten und sie um breite umlaufende Terrassen erweitert. So werden dezentrale Zugänge möglich, was den Nutzungsmix erleichtert. Der umfasst zur Zeit Gastronomie, Hotel, Atelier, Büro und Wohnungen.
Mit dem zweiten Preis wurde das „Wohnregal“in Berlin ausgezeichnet. Dies ist ein weitgehend aus Betonfertigteilen errichtetes Gebäude, bei dem Größe und Zuschnitt der Wohnungen variabel gestaltet werden können. Beim dritten Preisträger treffen zwei ungewöhnliche Nutzungen zusammen: Ein städtisches Verwaltungsgebäude in Oberhausen trägt auf seinem Dach ein Gewächshaus. Über den Köpfen der Angestellten gedeihen Erdbeeren, Salat und Sonnenblumen.
Die DAM-Liste der ausgezeichneten Bauten trennt markant Nord und Süd. Dazwischen zieht sich wie ein Schlechtwetterband eine breite Zone von anscheinend gestalterischer
Belanglosigkeit. Im Süden glänzen zwei Firmenkindergärten von ungewöhnlicher Weiträumigkeit und Materialwahl. Die Trumpf-Tagesstätte in Ditzingen lebt von Südtiroler Fichtenholz, das naturbelassen verbaut wurde. Die Goldhofer-Kita in Memmingen ist die Umnutzung der Firmenvilla und hat eine zweite äußere Mauer aus lichtdurchlässigem Kunststoff erhalten.
Der üppigste Neubau in der Auswahl des DAM ist die Unternehmenszentrale des dm-Drogeriemarkts in Karlsruhe. Die Architekten Lederer, Ragnarsdottir, Oei, die ansonsten, wie beim Ravensburger Kunstmuseum, für die städtebauliche Einbindung ihrer Entwürfe gelobt werden, haben nun in Karlsruhe einen üppigen Gebäudekomplex auf weiter Flur errichtet.
Stuttgart ist mit einem feinsinnigen Projekt vertreten: Das Büro Wandel und Lorch, von dem die neuen Synagogen in München und Dresden wie auch Pavillons zur Erschließung von KZ-Gedenkstätten stammen, hat das Hotel Silber stilgerecht saniert und als Gedenkort ausgestaltet. Das Haus war Mitte des 19. Jahrhunderts als Gasthaus „Zum Bahnhof“gestartet und dann zum noblen Parkhotel aufgestiegen. Nach dem Ersten Weltkrieg war es Post und Telegrafenamt, 1928 wurde es zum
Quartier der Politischen Polizei und dann der Gestapo. Es war also eines der vielen Häuser mitten in den Städten, die nach der Machtergreifung von der SA zur Einschüchterung und Folterung politischer Gegner genutzt wurden.
Interessanter noch als die Liste der Bauten in Deutschland sind sozusagen die Exportprodukte deutscher Büros. Dazu gehört eine Schule in Simbabwe des eher lockeren Berliner Verbands „Ingenieure ohne Grenzen“ebenso wie das Großprojekt des namhaften Büros Gerkan, Marg und Partner in Hangzhou in China. Der Bahnhofsneubau schließt im Süden der 9-Millionen Agglomeration, 200 Kilometer südlich von Shanghai gelegen, das Schnellbahnsystem an die Regionalverbindungen und die städtische U-Bahn an. Bei aller Berücksichtigung des landesüblichen Hangs zur Monumentalität zeigt die Anlage viel Sinn für filigran gestaltete Bau-Elemente (Stützen, Dachgestaltung) und Eleganz in der Materialabstimmung.
Der perspektivenreichste Beitrag in diesem Architektur-Jahrbuch ist das Gespräch mit dem Klimaingenieur Wolfgang Kessling vom Münchner Büro Transsolar über die ökologischen Möglichkeiten des Bauens. Kessling plädiert unter der Parole „weniger Technik, mehr Gebäude“
dafür, die Klimafunktion eines Gebäudes nicht an die Gebäudetechnik zu delegieren, sondern bereits in der Planung – beispielsweise mittels der Fassaden, Fenstern und Sonnenschutz – natürlich gelüftete Räume zu gewinnen. Kesslings Ansatz besteht darin, den Standard für Raumtemperatur und Komfort zu hinterfragen, der zu einer internationalen Norm geworden ist: 23 Grad. Diese Norm ist in den 1970er-Jahren in Dänemark entwickelt worden. „Diese Bedingungen wurden aber auch zum Beispiel sowohl in Kolumbien wie in Singapur in die Normen aufgenommen.“
Wolfgang Kessling fragt sich, ob Menschen in bestimmten Klimazonen nicht auch höhere Temperaturen akzeptieren würden: „Wenn draußen 32 Grad sind, kann man im Raum auch 29 Grad zulassen.“Dazu gibt es Studien aus Bangladesh und Kalifornien, die ein ähnliches Komfort-Empfinden dokumentieren.
Solche Überlegungen erweitern die Möglichkeiten, energie-sparsame Häuser zu konzipieren. Ein bemerkenswertes Beispiel, das Kessling zeigt, ist ein Hochhaus in Sydney, bei dem eine konventionelle Stahlbetonstruktur von einer StahlGlasfassade umgeben ist. Die Distanz zwischen Tragwerk und Fassade ist als Park gestaltet. Die Besonderheit des 180 Meter hohen Gebäudes besteht darin, dass nicht alle Stockwerke aus Beton sind. Zwischen Etagen, die aus Beton bestehen, sind jeweils vier Etagen aus Holz eingeschoben. Kessling war in das Projekt von Anfang an eingebunden, hat die Möglichkeiten gehabt, die Bedingungen am Standort zu prüfen, an einem Testdesign und der Ausschreibung mitzuwirken.
Auch in der Region hat Kesslings Büro eine Reihe von Projekten begleitet: in Aalen einen Neubau zum Schubart-Gymnasium, in Esslingen die Südwestmetall-Geschäftsstelle, das Dorotheen Quartier beim Stuttgarter Rathaus und die Logistik-Zentrale der Firma Elobau in Leutkirch.
Deutsches Architektur Jahrbuch 2021, DOM Publishers. 247 Seiten, 38 Euro.