Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Das Ende des Schweigens
In Frankreich häufen sich Berichte über sexuelle Gewalt – Massive Vorwürfe gegen Politiker und Journalisten
PARIS - Patrick Poivre d’Arvor ist so etwas wie das Gesicht der französischen Fernsehnachrichten. Jahrzehntelang präsentierte der blonde Moderator die Abendnachrichten um 20 Uhr im Sender TF1, dem Pendant zur Tagesschau. Nun warf die 37-jährige Schriftstellerin Florence Porcel Frankreichs wohl prominentestem Fernsehjournalisten vor, sie wiederholt vergewaltigt zu haben. Beim ersten Mal sei die junge Frau 21 Jahre alt gewesen, berichtete die Zeitung „Le Parisien“. „PPDA“wie der heute 73Jährige abgekürzt wird, habe seine junge Bewunderin zu einem Besuch ins Fernsehstudio eingeladen und sie danach in seinem Büro zum Sex gezwungen. „Ist Ihnen klar, dass Sie nun zur Frau geworden sind“, soll er der sexuell völlig Unerfahrenen hinterher gesagt haben.
Als Porcel den Journalisten vier Jahre später für ihre Masterarbeit interviewen wollte, habe Poivre d’Arvor die Studentin gegen ihren Willen erneut missbraucht. Porcel dachte damals an eine Anzeige, fürchtete aber, dass ihr gegen den prominenten Moderator niemand glauben würde. Erst im Januar erzählte die Schriftstellerin in ihrem Roman „Pandorini“in abgewandelter Form von dem, was ihr vor mehr als zehn Jahren angetan wurde.
Das Buch reiht sich ein in die Serie von Enthüllungen über französische Prominente, die sexuellen Missbrauch begangen haben sollen. Den Anfang machte im Januar das Buch „La Familie Grande“von Camille Kouchner, die ihren Stiefvater, den Verfassungsrechtler und berühmten
Journalisten Olivier Duhamel, des Inzests bezichtigte. Duhamel soll ihren Zwillingsbruder, den sie im Buch „Victor“nennt, als Jugendlichen vergewaltigt haben.
Jahrelang hüteten die elitären Kreise, in denen der einstige sozialistische Europaabgeordnete verkehrte, das Geheimnis. Als Camille Kouchner das Gesetz des Schweigens dann endlich durchbrach, berichteten unter dem Hashtag #MeTooInceste Hunderte Opfer von ähnlichen Erfahrungen. Laut einer Ipsos-Umfrage waren zehn Prozent der Französinnen und Franzosen bereits Opfer sexueller Gewalt durch ein Familienmitglied.
Zu denen, die nicht mehr schweigen wollen, gehört auch die Tochter des berühmten Schauspielers Richard Berry. Coline Berry wirft ihrem
Vater vor, sie vergewaltigt und sexuell missbraucht zu haben, als sie zwischen acht und zehn Jahre alt war. Auch wenn die Taten inzwischen verjährt sind, ermittelt die Justiz gegen Berry, der die Vorwürfe bestreitet.
Duhamel, der noch vor Erscheinen des Buches von allen seinen Ämtern zurücktrat, dementierte die Schilderungen Camille Kouchners nicht. Die Tochter des früheren Außenministers
Bernard Kouchner löste mit ihrem Buch eine Lawine aus, die neben dem Politologen weitere Prominente in den Abgrund riss. So musste ExMinisterin Elisabeth Guigou, eine Freundin Duhamels, auf ihren Posten als Leiterin einer frisch geschaffenen Kommission verzichten, die schärfere Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt an Minderjährigen ausarbeiten soll. Der Direktor der renommierten Politikhochschule Sciences Po, Frédéric Mion, musste seinen Posten aufgeben, weil er von den Taten Duhamels wusste, ihn aber im vergangenen Jahr noch die Einführungsvorlesung halten ließ.
Nach dem Rücktritt Mions lösten sich auch an Sciences Po die Zungen. Studentinnen und Studenten berichteten von sexuellem Missbrauch durch Kommilitonen, der von den Instanzen der Hochschule nicht weiter verfolgt worden sei. Mehr als hundert solcher Fälle wurden in den sozialen Netzwerken bekannt. Der Ruf der Universität, die nicht nur fast alle französischen Politiker, sondern auch zahlreiche Unternehmenschefs und Journalisten durchliefen, litt massiv unter den Enthüllungen. Nun will Sciences Po die Strukturen umkrempeln, um den Vorwürfen künftig besser nachzugehen.
Für den sexuellen Missbrauch Minderjähriger will Justizminister Eric Dupond-Moretti zudem die Gesetze verschärfen. „Sexuelle Penetration“bei unter 15-Jährigen soll künftig als Vergewaltigung angesehen und mit 20 Jahren Haft bestraft werden. Sexuelle Beziehungen innerhalb der Familie sollen bis zum Alter von 18 Jahren strafbar sein.