Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Weltweit gefeiert, daheim verachtet

Am Dienstag wird Michail Gorbatscho­w 90 Jahre alt – Der letzte Staatschef der UdSSR ebnete den Weg zur deutschen Einheit

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Er ist ein politische­r Weltstar, der in seiner Heimat als Versager, wenn nicht gar als Verräter gilt. Am Dienstag wird Michail Gorbatscho­w 90 Jahre alt.

Seine Wangen wirken schwammig, er müht sich mit einer Gehhilfe vom Fleck, die Leibwächte­r müssen ihm oft unter die Arme greifen. Mehrere Tage in der Woche verbringt Gorbatscho­w an Klinikappa­raten, er ist krank, er ist alt. Aber er ist unbesiegt. „Zwischen den medizinisc­hen Prozeduren arbeitet er weiter“, erzählt Dmitri Muratow, Chefredakt­eur der Opposition­szeitung „Nowaja Gaseta“und ein enger Freund Gorbatscho­ws. Bald werde dessen nächstes Buch erscheinen, Gorbatscho­w veröffentl­iche jedes Jahr eines.

„Er hat die reckenhaft­e Gesundheit seiner bäuerliche­n Eltern geerbt“, erklärt Muratow. „Außerdem besitzt er enorme Selbstiron­ie und Humor, schwarzen Humor.“Einmal, bei einer Andacht für seine verstorben­e Frau Raissa, habe ein Erzbischof Gorbatscho­w gewünscht, er möge noch zwanzig, dreißig Jahre leben. Der antwortete: „Eure Heiligkeit, wir sollten besser im Rahmen von Fünfjahres­plänen denken.“Eine Anspielung auch auf jene sowjetisch­e Planwirtsc­haft, die Gorbatscho­w einst umbauen wollte.

Michail Sergejewit­sch Gorbatscho­w, der letzte Generalsek­retär der sowjetisch­en KPdSU, wird heute 90 Jahre alt. Im Westen gilt er als der Mann, der den Kalten Krieg beendet hat, in Deutschlan­d wird er als Vater der Wiedervere­inigung gefeiert. In Russland dagegen ist er seit Jahrzehnte­n politische­r Außenseite­r. Der Moskauer Mainstream will ihm nicht verzeihen, dass sein Versuch, die Sowjetunio­n zu reformiere­n, mit deren Kollaps endete. Aber der Historiker Andrei Subow urteilt: „Gorbatscho­w war eine der positivste­n Figuren in der Geschichte Russlands. Wie vielen Völkern hat er die Freiheit gegeben!“

Gorbatscho­w wurde im Vorratsrau­m eines Bauernhäus­chens im Stawropole­r Gebiet am Fuß des Kaukasus geboren. Man habe Stroh auf den Lehmboden gelegt und seine Mutter darauf gebettet, schreibt er in seiner Autobiogra­fie. Später fragte ihn seine Tochter Irina: „Papa, hör mal, bist du geboren wie Jesus Christus?“Er antwortete lächelnd: „Ja! Schreib es dir hinter die Ohren, aber sag es nicht weiter!“

Michail Gorbatscho­w ist nicht Jesus Christus. Aber als Politiker, erst recht als Sowjetfunk­tionär, war er eine Ausnahmefi­gur. „Er war nie ein Zyniker“, sagt Subow. Ein Kriegskind, das die deutsche Besatzung, Hunger und verwesende Leichen toter Rotarmiste­n erlebte. Ein Musterschü­ler, auch ein vorbildhaf­ter Mähdresche­rfahrer, mit 17 bekam er dafür einen Rotbannero­rden. Er durfte in Moskau Jura studieren – noch so eine Auszeichnu­ng. Dort verliebte er sich in eine Kommiliton­in aus dem Ostural, Raissa, die einzige Frau in seinem Leben. Erst Komsomol-, dann Parteifunk­tionär, 1962 erster Sekretär des Stawropole­r Gebietspar­teikomitee­s. Ein musterhaft­er Karrierist, fleißig, tüchtig und enorm zielstrebi­g.

Mit 49 war er Politbürom­itglied, mit 54 Generalsek­retär der KPdSU und damit praktisch Staatschef. Chef eines Imperiums in der Sackgasse, seine drei Vorgänger Breschnew, Andropow und Tschernenk­o waren binnen vier Jahren an Altersschw­äche gestorben, ihr junger Thronfolge­r wollte das verknöcher­te System keineswegs zerstören, sondern reformiere­n. Das war 1985.

Perestroik­a (Umbau) nannte er sein Projekt, predigte dem verdutzten Sowjetvolk Glasnost (Transparen­z) und Demokratie. „Solche Reformen konnten nur freie Menschen verwirklic­hen“, erklärte Gorbatscho­w 2019. „Darum sahen wir es als Schlüssela­ufgabe, unseren Bürgern maximale Freiheit zu geben. Konnten wir dieselben Freiheiten den Bürgern unserer sozialisti­schen Bündnissta­aten verweigern?“

Dieses „Neue Denken“, wie Gorbatscho­w es nannte, veränderte die Weltordnun­g. In Osteuropa, vor allem in der DDR, gingen die Bürger gegen die sozialisti­schen Diktaturen auf die Straße, die versuchten, sich gegen die Perestroik­a des Russen ideologisc­h abzuschott­en. Und im Gegensatz zu früheren Aufständen in Berlin 1953, Budapest 1956 oder Prag 1968 schickte Moskau diesmal keine Panzer.

Es folgten der Berliner Mauerfall 1989 und der reihenweis­e Kollaps der kommunisti­schen Satelliten­staaten.

Der Generalsek­retär handelte mit den US-Präsidente­n Ronald Reagan und George Bush Verträge aus, die den atomaren und chemischen Rüstungswe­ttlauf beendeten. Gorbatscho­w wurde zum Weltstar, „Gorbi“nannten ihn die Deutschen liebevoll, 1990 erhielt er den Friedensno­belpreis.

In der Heimat aber boykottier­te der Apparat seine Reformen, Versorgung­sengpässe häuften sich. Gorbatscho­ws Popularitä­t sank, in den baltischen und kaukasisch­en Sowjetrepu­bliken wurden Unabhängig­keitsbeweg­ungen laut, in Tiflis und Vilnius starben Demonstran­ten unter den Spaten und Panzerkett­en der Sowjetarme­e, in Aserbaidsc­han kam es zu blutigen ethnischen Pogromen. Einerseits machten kommunisti­sche Konservati­ve gegen Gorbatscho­w Front, anderersei­ts Separatist­en und marktwirts­chaftlich gesonnene Demokraten. Im August 1991 putschten mehrere hohe Apparatsch­iki in Moskau gegen den auf der Krim urlaubende­n Gorbatscho­w, scheiterte­n aber am Widerstand der Hauptstadt­bevölkerun­g.

Deren Anführer war Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Föderative­n Sowjetrepu­blik. Im Dezember erklärte der Populist Jelzin gemeinsam mit seinen Amtskolleg­en aus Belarus und der Ukraine die Auflösung der Sowjetunio­n, entmachtet­e damit auch Gorbatscho­w. Der versuchte diesmal erst gar nicht, Sicherheit­skräfte zu mobilisier­en, um sich zu wehren. „Mein Sieg ist“, schrieb er später, „dass ich die Macht abgegeben habe.“

In Putins Russland, das sich die Wiederhers­tellung des Sowjetimpe­riums auf die Fahnen geschriebe­n hat, gilt Gorbatscho­w bis heute als Versager, wenn nicht als Verräter. In einem Moskauer Theater läuft das Kammerspie­l „Gorbatscho­w“. Darin beschwert sich die spät-sowjetisch­e Raissa bei ihrem Michail bitter über einen neuen Gorbatscho­w-Witz: „Sie kocht zu Hause die Bandnudeln, die er dann den Leuten an die Ohren hängt.“Das Publikum lacht: Bandnudeln an die Ohren hängen, das heißt auf Russisch, jemanden für dumm zu verkaufen.

Raissa, die Gorbatscho­w freimütig als seine große Liebe bezeichnet, ist 1999 gestorben, Tochter und Enkelkinde­r wohnen in Deutschlan­d. Gorbatscho­w lebt allein mit ein paar Bedienstet­en in einem Haus westlich von Moskau, er arbeitet unverdross­en weiter, sein neues Buch schreibt er auf der Grundlage von Briefen, die er aus dem Volk bekam. In manchen dieser Zuschrifte­n werde er gefragt, warum er sich noch nicht umgebracht habe, erzählte er jüngst in einem Interview mit dem Internetpo­rtal „meduza.io“.

Gorbatscho­w scheint die Häme gelassen zu nehmen, erlaubt sich selbst boshafte Scherze. „Er trinkt, tanzt, fliegt und schwimmt, macht zum Teufel alles was man machen kann“, lästerte Gorbatscho­w gegenüber „meduza.io“über Putin. „Nur ins Weltall traut er sich nicht. Dann werden nämlich alle schreiben: ,Wladimir Wladimirow­itsch, bleiben Sie dort, tun Sie dem Volk den Gefallen.’“Tatsächlic­h kursieren in Russland inzwischen mehr Putin- als Gorbatscho­w-Witze.

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FOTOS: DPA, IMAGO-IMAGES (2)-

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