Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wenn Anna-Lenas Betreuung zur „Herkulesaufgabe“wird
Familien mit förderbedürftigen Kindern leiden besonders unter den Schulschließungen – so auch die Familie Petrul aus Ringingen
RINGINGEN - „Für alle Eltern – und vor allem für die Mütter und Väter von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – gehen die Schulschließungen mit hohen Belastungen einher. Sie fühlen sich über weite Strecken alleingelassen und sind damit überfordert, ihr Kind beim Lernen zu begleiten oder gar darüber hinaus zu fördern“: Mit diesen Worten wird Nicole HollenbachBiele, Expertin für Schulforschung und Schulentwicklung, in einem bereits im Oktober erschienenen Bericht der Bertelsmann-Stiftung zitiert. Komplett unterstreichen können diese Einschätzung Petra und Gerold Petrul aus Ringingen, deren Tochter Anna-Lena mit dem seltenen Gendefekt „Angelman-Syndrom“geboren ist – und sowohl in der Schule als auch in der Ausbildung eine besondere Förderung braucht. Die ist im Corona-Lockdown aber nur eingeschränkt möglich.
Körbe voller leerer Klopapierrollen stehen in der Wohnung der Familie Petrul, am Esstisch sitzen AnnaLena und ihre Mutter. Petra Petrul holt sich eine Rolle aus einem Korb, drückt sie platt und hält sie ihrer Tochter hin, die das Stück Pappe in zwei Teile schneidet und diese in einen großen Behälter neben dem Tisch wirft. Dabei lächelt die 19-Jährige fast unablässig. Für Menschen mit „Angelman-Syndrom“ist dieses Lächeln zwar ein charakteristischer Gesichtsausdruck, dennoch scheint Anna-Lena die Tätigkeit wirklich Spaß zu machen. Dabei hat auch sie – vielleicht mehr noch als andere junge Menschen in ihrem Alter – unter dem Corona-bedingten Lockdown zu leiden.
Denn eigentlich würde sie die Holzanzünder im Berufsbildungsbereich (BBB) der Laupheimer Werkstatt für behinderte Menschen der St. Elisabeth-Stiftung aus den Klopapierrollen, Holzwolle und flüssigem Wachs fertigen. Doch wegen der Corona-Pandemie findet ihre Ausbildung nur teilweise als Präsenzunterricht statt. „Sie ist seit Januar im wöchentlichen Wechsel zu Hause und in der Werkstatt in Laupheim“, sagt Petra Petrul. „Das finde ich besser als den zweiwöchigen Rhythmus im vergangenen Jahr, da kommt sie nicht ganz so sehr aus dem Tritt.“Und doch ist die Situation alles andere als optimal für eine Familie, deren Tochter einen besonders hohen Förderund Betreuungsbedarf hat. Kommunizieren kann sie nur mit Hilfe von Bildern, alleine lassen kann man Anna-Lena, deren geistige und körperliche Entwicklung der eines Kleinkindes entspricht, nie. Auch wenn sie dank therapeutischer Maßnahmen Fortschritte macht – die 19Jährige kann sich nicht selbst versorgen und auch keine Gefahren erkennen.
Umso mehr hat die Familie Petrul die erste Corona-bedingte Schulschließung im März 2020 getroffen. Von einem auf den anderen Tag musste die Tochter, wie andere Schüler auch, auf erstmal unbestimmte Zeit zu Hause bleiben. Weil zur gleichen Zeit Vater Gerold erkrankte, für 14 Tage ins Krankenhaus und anschließend sechs Wochen in die Reha musste, stand Petra Petrul vor einer riesigen Herausforderung. An Homeschooling war nicht zu denken. „Es ging darum, Anna-Lena den Tag über irgendwie zu beschäftigen, damit sie am Abend müde ist“, erzählt die Mutter, die „nebenbei“auch noch neun Stunden pro Woche als Zahnarzthelferin arbeitet. „Eine Herkulesaufgabe“, zollt Gerold Petrul seiner Frau Respekt und fügt an: „Keine Ahnung, wie das Alleinerziehende schaffen.“
Als eine solche musste sich Petra Petrul zeitweise auch fühlen. Fast drei Monate lang war Anna-Lena vom Besuch der Ehinger Schmiechtalschule befreit, alternative Betreuungsmöglichkeiten waren rar: „Ich konnte ja niemanden zur Hilfe ins Haus holen. Das war nicht erlaubt.“Auch das Junginger „Aufschnaufhaus“
der Lebenshilfe, das Kurzzeitpflege für Menschen mit Behinderung zur Entlastung der Eltern anbietet, hatte zunächst geschlossen. Erst nach den Pfingstferien kam AnnaLena dort für zwei Wochen unter, ein weiterer Aufenthalt musste wegen Corona-Fällen frühzeitig abgebrochen werden. „Wenigstens konnte ich meine Tochter ab und zu in die Praxis mitbringen, wenn keine Patienten da waren“, erzählt Petra Petrul. Dennoch sah sie irgendwann keinen anderen Ausweg mehr, als ihre Anna-Lena in die Notbetreuung der Schmiechtalschule zu geben.
In den Sommerferien durfte sie für zwei Wochen mit den Heggbachern an einer Freizeit in Biberach teilnehmen. Die Hoffnung, nur weitere vier Wochen Ferien überbrücken zu müssen, zerschlug sich jedoch. Im Gegenteil: Die Zwangspause verlängerte sich. Denn die ab September geplante dreimonatige Testphase für die Ausbildung am BBB in Laupheim verzögerte sich Corona-bedingt und fand im Wechselschichtbetrieb vor Ort und zu Hause statt. „Im Endeffekt waren es dann sechs Wochen statt drei Monate, aber Anna-Lena hat den Eignungstest
für die Ausbildung bestanden“, berichtet Petra Petrul. „Und darüber waren wir sehr erleichtert, denn es wurde einfach Zeit, dass sie von der Schule wegkommt.“
Corona sorgt freilich dafür, dass auch dieser neue Lebensabschnitt bisher nicht planmäßig verläuft: Die Ausbildungsgruppe wurde geteilt, Anna-Lena arbeitete zwei Wochen in der Werkstatt und zwei Wochen daheim – sprich im „Homeoffice“. Sie nahm das Material für die Holzanzünder nach Hause, und als dieses auszugehen drohte, setzte Petra Petrul einen Facebook-Post ab – und wurde mit Klopapierrollen aus dem Bekanntenkreis förmlich überschwemmt. Auch eine Firma meldete sich und bot reichlich Flüssigwachs an. „Das war schon toll, dass wir so viel Unterstützung bekommen haben“, erzählt Gerold Petrul.
Weniger schön war der Umstand, dass ein FSJler in der Werkstatt positiv auf Corona getestet wurde – und alle aus der Gruppe sofort für 14 Tage nach Hause mussten. Und weil Anna-Lena partout keine Maske aufsetzen will und auch nicht muss – sie hat eine ärztlich bescheinigte Befreiung – gibt es auch Probleme mit dem täglichen Fahrdienst: Der weigert sich, die junge Frau mitzunehmen. „Zum Glück fanden wir eine Lösung: Ein FSJler fährt sie von Ehingen nach Laupheim und zurück. Und von Ringingen nach Ehingen kommt sie mit einem Fahrdienst, der sie auch ohne Maske befördert“, erzählt Petra Petrul.
Insgesamt 22 Wochen war AnnaLena im vergangenen Jahr zu Hause. Neben der Belastung für die Eltern hinterlässt dies auch Spuren bei Anna-Lena. „Das Problem ist: Sie versteht nicht, warum sie vieles nicht darf“, sagt die Mutter: „Ihr beizubringen, dass sie nicht schwimmen oder ins Kino gehen darf, was sie sonst so gerne macht, ist zu komplex.“Zum Glück haben die Petruls im Frühjahr im Garten einen eigenen Pool fertiggestellt, den Anna-Lena liebt. „Aber jetzt im Winter kommt es schon mal vor, dass sie beim Spielen im Schnee plötzlich zum Schwimmbad läuft und reinspringen will.“
Bei aller Traurigkeit, die ihre Tochter bisweilen erfasst, gibt es aber auch Positives. „Die Ausbildung tut ihr gut“, sagt Petra Petrul. Zwar sei das Ziel, die Menschen mit Behinderung für den ersten Arbeitsmarkt fit zu bekommen, für Anna-Lena kaum erreichbar. „Aber sie verbessert ihre technischen Fähigkeiten.“Entsprechende Fortschritte zeigten sich auch zu Hause. „Man kann ihr richtige Aufgaben geben, die sie auch versteht und fast selbstständig erfüllt. Zum Beispiel hilft sie beim Tisch decken und abräumen oder holt die Wäsche aus der Waschmaschine“, erzählt die Mutter. So ist es besser zu verschmerzen, dass die für Januar geplante dritte Delfin-Therapie in der Karibik auf 2022 verlegt werden musste. Der Fokus der Familie Petrul liegt derzeit ganz auf der Ausbildung – verbunden mit einer großen Hoffnung: „In der ersten März-Woche wird Anna-Lena noch zu Hause sein, ab 8. März dann hoffentlich wieder durchgängig im Betrieb.“Das, so ist Petra Petrul überzeugt, wäre für die ganze Familie ein Segen.