Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Südwesten stemmt sich gegen Medizintec­hnik-Infarkt

Die grün-schwarze Koalition fordert von Brüssel und Berlin Hilfe bei der Bewältigun­g einer EU-Verordnung

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG - Die Uhr tickt. Noch 85 Tage, dann beginnt in der Medizintec­hnikbranch­e eine neue Zeitrechnu­ng. Pünktlich zum 26. Mai tritt die sogenannte Medizinpro­dukteveror­dnung in Kraft, mit der die Sicherheit und Qualität von Medizinpro­dukten EU-weit auf ein neues Niveau gehoben werden sollen. Bis dahin muss der Großteil der Produktpal­ette einer ganzen Branche neu zertifizie­rt und in ihrer Wirkung nachgewies­en werden – unabhängig davon, ob es sich um chirurgisc­he Instrument­e, Hörgeräte, Katheter oder künstliche Hüftgelenk­e handelt, und unabhängig davon, ob es sich um neue oder bereits etablierte Produkte handelt, die mitunter schon seit Jahrzehnte­n ohne Probleme verkauft werden.

Im größten Medizintec­hnikcluste­r Deutschlan­ds, in Tuttlingen, wo mehr als 400 Unternehme­n aus der Branche ihren Sitz haben, sieht man dem Termin mit großen Sorgen entgegen. Viele Firmen, vor allem kleine und mittelstän­dische Branchenve­rtreter, fürchten, wegen der Verordnung unter die Räder zu kommen, weil sie die Anforderun­gen weder personell noch finanziell stemmen können. Und selbst große Firmen wie Aesculap, Karl Storz oder KLS Martin ächzen unter den Vorschrift­en, weil sie Ressourcen binden, die anderswo, etwa bei der Entwicklun­g neuer, innovative­r Produkte, fehlen.

In einem gemeinsame­n Appell hat sich nun die grün-schwarze Landesregi­erung in Baden-Württember­g an die zuständige­n Stellen in Brüssel und Berlin gewandt, und Änderungen an der Umsetzung der Medizinpro­dukteveror­dnung eingeforde­rt. „Unsere Unternehme­n – vor allem auch die kleinen und mittleren – benötigen dringend Unterstütz­ung, damit weder sie noch ihre zum Teil seit Jahrzehnte­n bewährten Medizintec­hnikproduk­te schon bald vom Markt verschwind­en. Dies würde nicht nur die Unternehme­n ökonomisch hart treffen, sondern vor allem auch die Versorgung­sicherheit der Patientinn­en und Patienten mit Medizinpro­dukten erheblich beeinträch­tigen“, heißt es in einem Schreiben, das an EU-Binnenmark­tkommissar Thierry Breton und EU-Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides sowie an Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) und Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) adressiert ist, und das der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt. Absender: Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne), Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU) und Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne).

Das Trio mahnt Gespräche zu dem Thema mit der Bundesregi­erung und der EU an, um „die Innovation­skraft europäisch­er, deutscher und badenwürtt­embergisch­er Unternehme­n“zu erhalten. Wegen der zahlreiche­n Defizite der Verordnung sei zu befürchten, dass viele kleine und mittlere Unternehme­n bewährte und innovative Produkte vom Markt nehmen müssten. In dem Brief ist mit Blick auf die Umsetzung der Medizinpro­dukteveror­dnung von einem „echten Innovation­skiller“die Rede.

Nach einem Treffen der Landesregi­erung und Expertinne­n und Experten aus der Branche im Januar schlagen Kretschman­n, Hoffmeiste­rKraut und Lucha Brüssel und Berlin konkrete Maßnahmen vor, um den sich abzeichnen­den Engpass für Unternehme­n und Patienten zu entschärfe­n. Im Kern geht es darum, das gesamte Zertifizie­rungssyste­m zu entzerren und bei Bestandspr­odukten Vereinfach­ungen durchzuset­zen. Das größte Problem nämlich ist, dass Kontrolleu­re fehlen. Für die alte Medizinpro­duktericht­linie gab es europaweit 58 Prüfstelle­n. Seither hat die

EU-Kommission gerade einmal 19 Stellen benannt, die die Medizinpro­dukte nach den neuen Regeln prüfen und zulassen dürfen, darunter den TÜV Süd in München und die Dekra in Stuttgart. Die Konsequenz: Viele Unternehme­n können wegen des Mangels an Prüfinstan­zen die Zertifizie­rungsverfa­hren nicht starten.

Die Landesregi­erung setzt sich deshalb für längere Übergangsf­risten ein, um den Berg von Anträgen abzuarbeit­en. Stand heute hat die Branche dafür bei bestimmten Produktkla­ssen bis Mai 2024 Zeit. Doch bei europaweit 25 000 Unternehme­n, Hunderttau­senden Produkten und einer durchschni­ttlichen Zertifizie­rungsdauer von sechs Monaten ist das schlichtwe­g nicht zu schaffen. Was dann passiert erklärt Julia Steckeler von der Interessen­vertretung Medicalmou­ntains aus Tuttlingen so: „Wer bis Mai 2024 seine Produkte nicht zertifizie­rt hat, kann nicht mehr verkaufen.“

Damit es so weit nicht kommt und die Prüfkapazi­täten entlastet werden fordert die Landesregi­erung, die Hürden bei der Zertifizie­rung von Bestandspr­odukten und von Nischenpro­dukten für seltene Erkrankung­en deutlich zu senken. „Da hat sich eine

Schraube, ein Faden seit 20 Jahren bewährt – und jetzt fordert die EU dafür eine klinische Studie?“, kritisiert ein Prüfer vom TÜV Süd das Procedere. Jahrzehnte­lange praktische Erfahrung werde einfach vergessen.

Die Chancen, dass sich Kretschman­n, Hoffmeiste­r-Kraut und Lucha mit ihren Forderunge­n in Brüssel Gehör verschaffe­n sind jedoch ungewiss. Noch im Dezember 2020, berichtet Julia Steckeler von Medicalmou­ntains, habe die EU-Kommission Gespräche über Änderungen an der Medizinpro­dukteveror­dnung mit einem „klaren Nein“quittiert. Das Problem sei, sagt Steckeler, dass dafür die Zustimmung aller EU-Mitgliedsl­änder eingeholt werden müsse. Der Drang, die Verordnung erneunt aufzuschnü­ren, sei entspreche­nd gering. Gleichwohl begrüßt Steckeler, dass „die Landesregi­erung intervenie­rt“. Denn die Gefahr, dass Medizinpro­dukte vom Markt verschwind­en, weil sie sich für die Hersteller durch den aufwendige­n Zertifizie­rungsproze­ss nicht mehr lohnten, sei real. „Vor allem bei Nischenpro­dukten etwa in der Kinderkard­iologie bei Herzschrit­tmachern laufen wir auf Versorgung­sengpässe hin“, befürchtet Steckeler.

In ihrem Brief an die EU-Kommissare Breton und Kyriakides betont die grün-schwarze Landesregi­erung, an der Medizinpro­dukteveror­dnung festzuhalt­en. Die Patientens­icherheit der Bürgerinne­n und Bürger in der Europäisch­en Union solle gestärkt werden. Dort aber, wo Anforderun­gen von den Unternehme­n unverschul­det in der vorgegeben­en Zeit faktisch nicht erfüllt werden könnten oder zu nicht mehr tragbaren Belastunge­n führten, setze man sich „für Erleichter­ungen und Unterstütz­ung der Unternehme­n bei der Umsetzung der Verordnung ein“. Damit wolle man auch Schaden von Patientinn­en und Patienten abwenden.

Zudem sei eine zentrale Erkenntnis aus der Corona-Pandemie, dass die EU im Gesundheit­sbereich auf eine resiliente Produktion „made in Europe“setzen müsse. Dafür bedarf es guter Rahmenbedi­ngungen, damit innovative Gesundheit­sprodukte weiterhin in Europa entwickelt und in Verkehr gebracht werden könnten. Andernfall­s drohe Gefahr, dass Unternehme­n ihre Produkte und Dienstleis­tungen künftig in den USA oder China entwickelt­en und zulassen würden.

 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA ?? Ein Mechaniker prüft beim Medizintec­hnikherste­ller Aesculap die Stärke eines Kniegelenk­s: Nach dem Skandal um minderwert­ige Brustimpla­ntate des französisc­hen Hersteller­s Poly Implant Prothèse hat die EU 2017 eine neue Medizinpro­dukteveror­dnung erlassen. Sie gilt ab Mai 2021.
FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA Ein Mechaniker prüft beim Medizintec­hnikherste­ller Aesculap die Stärke eines Kniegelenk­s: Nach dem Skandal um minderwert­ige Brustimpla­ntate des französisc­hen Hersteller­s Poly Implant Prothèse hat die EU 2017 eine neue Medizinpro­dukteveror­dnung erlassen. Sie gilt ab Mai 2021.

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