Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Südwesten stemmt sich gegen Medizintechnik-Infarkt
Die grün-schwarze Koalition fordert von Brüssel und Berlin Hilfe bei der Bewältigung einer EU-Verordnung
RAVENSBURG - Die Uhr tickt. Noch 85 Tage, dann beginnt in der Medizintechnikbranche eine neue Zeitrechnung. Pünktlich zum 26. Mai tritt die sogenannte Medizinprodukteverordnung in Kraft, mit der die Sicherheit und Qualität von Medizinprodukten EU-weit auf ein neues Niveau gehoben werden sollen. Bis dahin muss der Großteil der Produktpalette einer ganzen Branche neu zertifiziert und in ihrer Wirkung nachgewiesen werden – unabhängig davon, ob es sich um chirurgische Instrumente, Hörgeräte, Katheter oder künstliche Hüftgelenke handelt, und unabhängig davon, ob es sich um neue oder bereits etablierte Produkte handelt, die mitunter schon seit Jahrzehnten ohne Probleme verkauft werden.
Im größten Medizintechnikcluster Deutschlands, in Tuttlingen, wo mehr als 400 Unternehmen aus der Branche ihren Sitz haben, sieht man dem Termin mit großen Sorgen entgegen. Viele Firmen, vor allem kleine und mittelständische Branchenvertreter, fürchten, wegen der Verordnung unter die Räder zu kommen, weil sie die Anforderungen weder personell noch finanziell stemmen können. Und selbst große Firmen wie Aesculap, Karl Storz oder KLS Martin ächzen unter den Vorschriften, weil sie Ressourcen binden, die anderswo, etwa bei der Entwicklung neuer, innovativer Produkte, fehlen.
In einem gemeinsamen Appell hat sich nun die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg an die zuständigen Stellen in Brüssel und Berlin gewandt, und Änderungen an der Umsetzung der Medizinprodukteverordnung eingefordert. „Unsere Unternehmen – vor allem auch die kleinen und mittleren – benötigen dringend Unterstützung, damit weder sie noch ihre zum Teil seit Jahrzehnten bewährten Medizintechnikprodukte schon bald vom Markt verschwinden. Dies würde nicht nur die Unternehmen ökonomisch hart treffen, sondern vor allem auch die Versorgungsicherheit der Patientinnen und Patienten mit Medizinprodukten erheblich beeinträchtigen“, heißt es in einem Schreiben, das an EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton und EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides sowie an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) adressiert ist, und das der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt. Absender: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) und Sozialminister Manfred Lucha (Grüne).
Das Trio mahnt Gespräche zu dem Thema mit der Bundesregierung und der EU an, um „die Innovationskraft europäischer, deutscher und badenwürttembergischer Unternehmen“zu erhalten. Wegen der zahlreichen Defizite der Verordnung sei zu befürchten, dass viele kleine und mittlere Unternehmen bewährte und innovative Produkte vom Markt nehmen müssten. In dem Brief ist mit Blick auf die Umsetzung der Medizinprodukteverordnung von einem „echten Innovationskiller“die Rede.
Nach einem Treffen der Landesregierung und Expertinnen und Experten aus der Branche im Januar schlagen Kretschmann, HoffmeisterKraut und Lucha Brüssel und Berlin konkrete Maßnahmen vor, um den sich abzeichnenden Engpass für Unternehmen und Patienten zu entschärfen. Im Kern geht es darum, das gesamte Zertifizierungssystem zu entzerren und bei Bestandsprodukten Vereinfachungen durchzusetzen. Das größte Problem nämlich ist, dass Kontrolleure fehlen. Für die alte Medizinprodukterichtlinie gab es europaweit 58 Prüfstellen. Seither hat die
EU-Kommission gerade einmal 19 Stellen benannt, die die Medizinprodukte nach den neuen Regeln prüfen und zulassen dürfen, darunter den TÜV Süd in München und die Dekra in Stuttgart. Die Konsequenz: Viele Unternehmen können wegen des Mangels an Prüfinstanzen die Zertifizierungsverfahren nicht starten.
Die Landesregierung setzt sich deshalb für längere Übergangsfristen ein, um den Berg von Anträgen abzuarbeiten. Stand heute hat die Branche dafür bei bestimmten Produktklassen bis Mai 2024 Zeit. Doch bei europaweit 25 000 Unternehmen, Hunderttausenden Produkten und einer durchschnittlichen Zertifizierungsdauer von sechs Monaten ist das schlichtweg nicht zu schaffen. Was dann passiert erklärt Julia Steckeler von der Interessenvertretung Medicalmountains aus Tuttlingen so: „Wer bis Mai 2024 seine Produkte nicht zertifiziert hat, kann nicht mehr verkaufen.“
Damit es so weit nicht kommt und die Prüfkapazitäten entlastet werden fordert die Landesregierung, die Hürden bei der Zertifizierung von Bestandsprodukten und von Nischenprodukten für seltene Erkrankungen deutlich zu senken. „Da hat sich eine
Schraube, ein Faden seit 20 Jahren bewährt – und jetzt fordert die EU dafür eine klinische Studie?“, kritisiert ein Prüfer vom TÜV Süd das Procedere. Jahrzehntelange praktische Erfahrung werde einfach vergessen.
Die Chancen, dass sich Kretschmann, Hoffmeister-Kraut und Lucha mit ihren Forderungen in Brüssel Gehör verschaffen sind jedoch ungewiss. Noch im Dezember 2020, berichtet Julia Steckeler von Medicalmountains, habe die EU-Kommission Gespräche über Änderungen an der Medizinprodukteverordnung mit einem „klaren Nein“quittiert. Das Problem sei, sagt Steckeler, dass dafür die Zustimmung aller EU-Mitgliedsländer eingeholt werden müsse. Der Drang, die Verordnung erneunt aufzuschnüren, sei entsprechend gering. Gleichwohl begrüßt Steckeler, dass „die Landesregierung interveniert“. Denn die Gefahr, dass Medizinprodukte vom Markt verschwinden, weil sie sich für die Hersteller durch den aufwendigen Zertifizierungsprozess nicht mehr lohnten, sei real. „Vor allem bei Nischenprodukten etwa in der Kinderkardiologie bei Herzschrittmachern laufen wir auf Versorgungsengpässe hin“, befürchtet Steckeler.
In ihrem Brief an die EU-Kommissare Breton und Kyriakides betont die grün-schwarze Landesregierung, an der Medizinprodukteverordnung festzuhalten. Die Patientensicherheit der Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union solle gestärkt werden. Dort aber, wo Anforderungen von den Unternehmen unverschuldet in der vorgegebenen Zeit faktisch nicht erfüllt werden könnten oder zu nicht mehr tragbaren Belastungen führten, setze man sich „für Erleichterungen und Unterstützung der Unternehmen bei der Umsetzung der Verordnung ein“. Damit wolle man auch Schaden von Patientinnen und Patienten abwenden.
Zudem sei eine zentrale Erkenntnis aus der Corona-Pandemie, dass die EU im Gesundheitsbereich auf eine resiliente Produktion „made in Europe“setzen müsse. Dafür bedarf es guter Rahmenbedingungen, damit innovative Gesundheitsprodukte weiterhin in Europa entwickelt und in Verkehr gebracht werden könnten. Andernfalls drohe Gefahr, dass Unternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen künftig in den USA oder China entwickelten und zulassen würden.