Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Unter Ausschluss der Öffentlich­keit

Dominik Grafs hinreißend­er „Fabian“eröffnet eine reine Online-Berlinale

- Von Rüdiger Suchsland

BERLIN - Die Berlinale, weltweit nach Cannes und Venedig das wichtigste Filmfestiv­al, begann am Montag ohne feierliche Zeremonie, ohne roten Teppich und ohne anderes Brimborium – also eigentlich ohne alles, was den Charme eines Filmfestiv­als ausmacht. Es ist eine sogenannte Hybrid-Ausgabe, zweigeteil­t in ein Treffen der Fachbesuch­er und Journalist­en, das an den nächsten fünf Tagen komplett online und ohne Zuschauer stattfinde­t. Und in ein Publikumse­vent im Juni mit – so die Hoffnung – Vorführung­en in den Kinos und ein paar Stars.

15 Produktion­en gehen ins Rennen um den Goldenen Bären. Dabei sind das Regiedebüt von Schauspiel­er Daniel Brühl, der neue Film der Französin Céline Sciamma, Maria Schraders neues Werk und eine Literaturv­erfilmung von Dominik Graf.

Letztere ist eine Liebesgesc­hichte, zum Verzweifel­n, aber auch immer pragmatisc­h, nie melodramat­isch, also echt und zeitgemäß: „Fabian oder der Gang vor die Hunde“des Münchner Regisseurs Dominik Graf, der erste von fünf deutschen Filmen im diesjährig­en Wettbewerb um den Goldenen Bären, hatte am Montag Premiere. Es ist ein überrasche­nd zärtlicher und intimer Film und dabei alles andere als eine typische

Literaturv­erfilmung. „Fabian“war zu Erich Kästners Zeit ein ziemlich ungewöhnli­cher Roman. Er erzählt von einem jungen Mann, der wahrschein­lich dem Verfasser nicht unähnlich ist, der optimistis­ch und positiv denkt und zugleich verzweifel­t in diesem Optimismus.

Der junge Fabian versucht im Berlin der späten Weimarer Republik in der Weltwirtsc­haftskrise zu überleben. Die Verhältnis­se sind schwierig und werden noch schwierige­r, als Fabian, der zunächst als Werbetexte­r arbeitet, arbeitslos wird. Zugleich sind es aber auch glückliche Zeiten, denn Fabian verliebt sich. Und diesmal, da ist er sich sicher, ist es ernst. Melancholi­e und Hedonismus, Glück des Tages und grundsätzl­iche Verzweiflu­ng vermischen sich zu einem bezaubernd­en, bittersüße­n Porträt einer vergangene­n Epoche, die der unsrigen im Guten wie im Schlechten ziemlich ähnlich ist. Und so ist dieser Beitrag von Graf der erste große Favorit im BerlinaleW­ettbewerb.

Wenn es mit rechten Dingen zuginge, sollte dieser Film am Freitag einen der großen Bären-Preise bekommen – für seine Kamera, seine Regie, seine Ausstattun­g, für die großartige­n Hauptdarst­eller Tom Schilling und Saskia Rosendahl. Aber was läuft schon wie sonst bei dieser Berlinale?

Im letzten Jahr waren die Berliner Filmfestsp­iele eine der letzten kulturelle­n Großverans­taltungen, die noch in alter Normalität über die Bühne gingen. Rund 330 000 Tickets waren verkauft worden. Kurz danach wurde das gesellscha­ftliche und kulturelle Leben in Deutschlan­d herunterge­fahren, in vieler Hinsicht dauerhaft und bis heute ohne echte Erholung. Nun, ein gutes Jahr später, ist bei der 71. Ausgabe der Filmfestsp­iele alles anders. Oder wie es der künstleris­che Leiter der Berlinale, der Italiener Carlo Chatrian, ausdrückt: „Ein bisschen komisch.“

Was das bedeutet für die Wirkung und die Zukunft des Filmfestiv­als, das kann noch niemand sagen. Wenn bei der Bekämpfung der Pandemie oft vom „Fahren auf Sicht“die Rede ist, so handelt es sich bei der Berlinale eher um ein Stochern im Nebel.

Eine sechsköpfi­ge Jury, bestehend aus ehemaligen Gewinnern des Goldenen Bären, schaut unter Ausschluss der Öffentlich­keit die Wettbewerb­sbeiträge im Kino an. Fachbesuch­er und Filmkritik­er bekommen, eingeloggt in ein Filmportal, einen Teil des Programms zur Verfügung gestellt. Man sieht die Filme zu Hause am Computer, aber keineswegs alle – und unter deutlich eingeschrä­nkten Bedingunge­n. Dazu gehört das eng begrenzte 24-Stunden-Zeitfenste­r pro Film, das zusätzlich durch Sperrfrist­en

begrenzt ist. Die Berichters­tattung ist also, anders als sonst, eingeschrä­nkt. Das Reich der Möglichkei­ten, die ein solches Filmfestiv­al ansonsten bietet, existiert nicht. Den Wunsch des Publikums, der Leser, zu erfahren, was auf dieser Berlinale geschieht, können die Berichters­tatter eigentlich nicht oder zumindest nur eingeschrä­nkt erfüllen.

Das anonyme Umfeld hat vor allem Folgen für die Auswertung der Filme. Denn warum geben Filmemache­r ihre Filme überhaupt auf ein Festival? Aus Interesse, die Reaktionen vor dem Filmstart einschätze­n zu können, und um weltweite Pressereso­nanz zu bekommen. Im Gegensatz zu den Online-Ausgaben anderer Festivals fallen bei der Berlinale auch Pressekonf­erenzen und Publikumsg­espräche komplett weg. Das heißt: Es gibt für die Filmemache­r keine Möglichkei­t, Reaktionen zu erspüren, mitzubekom­men, wie ein Film bei Presse und Publikum ankommt. Das vielleicht Wichtigste eines Filmfestiv­als, nämlich die Begegnung mit dem Publikum, fehlt völlig.

Die misslichen Verhältnis­se treffen nicht zuletzt die Vielfalt des deutschen Independen­t-Kinos. So wie Julian Radlmair, der mit dem Berliner Volksbühne­nstar Lilith Stangenber­g die sehr lustige antifaschi­stische Vampirkomö­die „Blutsauger“gedreht hat. Darin geht es um einen sowjetisch­en Schauspiel­er, der in den 1920er-Jahren ins brodelnde Berlin flieht. Es ist eine Flüchtling­sgeschicht­e mit Corinna Harfouch, Andreas Döhler und Alexandre Koberidze in den weiteren Rollen. Auch der Münchner Regisseur Tim Fehlbaum braucht für seinen zweiten Film, den überaus anspruchsv­ollen, visuell überwältig­enden Science-Fiction „Tides“eigentlich die große Leinwand.

Oder Daniel Brühl, der im Lockdown sein Regiedebüt „Nachbarn“gedreht hat. „Ein hundertpro­zentiger Berlin-Film“sei das, so Brühl. Festivalbo­ss Chatrian verriet vorab, dass Brühl sich quasi selbst spielt, einen Filmstar, der im Nachtleben des Prenzlauer Bergs den Gegenwelte­n des anderen Berlin begegnet.

„Fabian“endet mit einem großen Autodafé, dem Beginn eines Weltenbran­ds. Der „Gang vor die Hunde“des Romantitel­s könnte, so die Befürchtun­g, auch manchem Filmemache­r und Kino blühen. Hoffentlic­h nicht auch der Berlinale.

 ?? FOTOS: BERLINALE ?? In der Literaturv­erfilmung von Erich Kästners „Fabian oder der Gang vor die Hunde“spielt Tom Schilling die Hauptrolle.
FOTOS: BERLINALE In der Literaturv­erfilmung von Erich Kästners „Fabian oder der Gang vor die Hunde“spielt Tom Schilling die Hauptrolle.
 ??  ?? Lilith Stangenber­g, Star der Berliner Volksbühne, spielt die Hauptrolle in Julian Radlmairs Vampirkomö­die „Blutsauger“.
Lilith Stangenber­g, Star der Berliner Volksbühne, spielt die Hauptrolle in Julian Radlmairs Vampirkomö­die „Blutsauger“.

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