Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Junge Ulmer Bühne rückt Kinderarmut in den Blick
Wie viel Mitgefühl hat die Gesellschaft für Kinder in Armut? Wie kann sich ein Kind gegen Mangel, Scham und Vorurteile wappnen? Darum geht’s in „Wutschweiger“
ULM - Sammy heißt eigentlich Heidelinde. Den Entschluss, Sammy zu sein, fasste das Mädchen schon, als es noch nicht zur Schule ging. Sammy ist mit allen Wassern gewaschen, und Gossenwasser macht hart, aber nur die äußere Schale.
Die verbirgt nämlich Sammys Empfindsamkeit. Und ihre Wut, die sie mit dem neu in den Wohnblock gezogenen Ebenezer teilt. Die Junge Ulmer Bühne (JUB) bringt „Wutschweiger“als mobile Produktion für Schulen auf die Bühne, ein mit dem baden-württembergischen Jugendtheaterpreis 2020 ausgezeichnetes Stück der belgischen Autoren Jan Sobrie und Raven Ruell, beeindruckend für die JUB eingerichtet von Benjamin Retetzki und geeignet für Schülerinnen und Schüler ab etwa neun Jahren.
„Wutschweiger“richtet den Blick auf Kinderarmut in Europa und zwar ganz bewusst aus der Perspektive zweier Kinder. Sie lieben ihre Eltern, obwohl diese die Kontrolle über ihr Leben verloren haben, obwohl sie trinken und ihre elterliche Verantwortung ignorieren.
Sammy (Leonie Hassfeld) und Ebenezer (Jan-Hendrik Kroll) spüren die brutale Ausgrenzung der Gesellschaft anderer Kinder, der Lehrer und gerade auch derer, die sich als Helfer gerieren, die aber mehr über die Kinder sprechen als mit ihnen. Sammys Augen beobachten scharf: Sie sieht, dass auf den Markenklamotten von Ebenezer, dem Neuen im Wohnblock, das Krokodil in die falsche Richtung schaut, und dass das Logo auf den coolen Turnschuhen verkehrt herum ist. Wie bei ihr selbst.
Die Markenklamotten verbergen die Scham, nur drei Unterhosen zu besitzen und zu deren Schonung gar keine zu tragen. Sie verbergen, dass Sammy die Hausaufgaben mit dem Bleistift machen muss, weil ihr verwitweter und arbeitslos gewordener Vater keinen Füller bezahlt.
Dann ist da jener Elternabend, auf dem klar wird: Der sehnlichste Wunsch Sammys und Ebenezers wird sich nicht erfüllen. Sie dürfen nicht mit auf die Skifreizeit der Klasse. Ebenezer belauscht, wie auf dem Elternabend gefragt wird, ob andere für eine Teilnahme der beiden Kinder bezahlen würden. Wenn sie „Flüchtlingskinder“wären... der Satz kommt schlicht daher, aber er ist der härteste Satz des Stückes. Kinder zu unterstützen, deren Eltern die Mittellosigkeit in den Augen der Gesellschaft selbst verschuldet haben, gibt nicht das warme Gefühl, Flüchtlingen geholfen zu haben. Sammy und Ebenezer müssen zuhause bleiben.
Die beiden Kinder schwören einander zu schweigen. Aus Wut, dauerhaft und irritieren die Gesellschaft um sich. Sie werden selbst aktiv, in dem sie das Schweigen als ihre Stimme entdecken. Ganz bewusst im Stück außen vor bleiben Fragen, die sich dennoch in den Kopf des erwachsenen Zuschauers drängen: Weshalb gibt es Eltern, die Sozialleistungen nicht für ihre Kinder einsetzen?