Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Viel Ärger um ein Stück Stoff
Schweizer stimmen über Burkaverbot ab – Zuspruch auch aus dem linken Lager
KREUZLINGEN - Keine Kuppel und kein Minarett. Von außen wirkt das weiße Gebäude in der Romanshornerstraße 16 eher wie ein unscheinbares, großes Wohnhaus. Einladend ist das Gebäude erst, wenn die bestrumpften Füße im türkisfarbenen Hochflorteppich des Gebetssaals versinken. Der Saal ist hell und freundlich. Auf der linken Seite ist eine dezent verzierte Minikanzel, auf der Rehan Neziri freitags und an Feiertagen seine Predigt hält. Bis zu 200 Gläubige kamen dort vor der Corona-Pandemie zum Freitagsgebet zusammen.
Seit fast 20 Jahren ist Neziri Imam der albanisch-muslimischen Gemeinde in Kreuzlingen. Es gibt noch eine zweite Moschee, die der türkisch-islamischen Gemeinde, aber die ist deutlich kleiner. Der Ausländeranteil in Kreuzlingen bei Konstanz ist mit mehr als 50 Prozent so hoch wie in kaum einer anderen Stadt der Schweiz. Die Stadt ist stolz auf ihren Ausländerrat und das Fest der Kulturen, das jedes Jahr groß gefeiert wird.
Eine von der rechtskonservativen SVP lancierte Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung haben die Schweizer Stimmberechtigten erst im September abgelehnt. Aber ob sie am 7. März auch gegen ein Burkaverbot stimmen werden? Rehan Neziri glaubt es nicht. Schließlich hätten die Kreuzlinger auch 2009 für das Minarettverbot gestimmt. „Das hat uns wirklich weh getan.“Jetzt hat der Imam Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. Im Nachhinein waren damals viele Schweizer Stimmbürger geschockt, dass das Minarettverbot durchgekommen ist. Alle Umfragen hatten das Gegenteil vorausgesagt, sodass viele Gegner zu Hause blieben.
Diesmal ist die Lage anders. Denn das Burkaverbot, das in den Abstimmungsunterlagen offiziell Verhüllungsverbot heißt, wird nicht nur von rechtskonservativen SVP-Kreisen unterstützt. Auch einige linke Frauenbewegungen sind dafür. Sie sehen in der Verhüllung eine Unterdrückung der Frau. Sogar Alice Schwarzer meldet sich von Deutschland aus in einem Interview der „Neuen Zürcher Zeitung“zu Wort. Die Vollverhüllung eines Menschen gehöre nicht in eine Demokratie. Es sei schon bedrückend genug, dass in den sogenannten Gottesstaaten Millionen Frauen unter den Schleier gezwungen werden.
Der Berner Imam Mustafa Memeti bezeichnet die Initiative sogar als Rettungspaket für unterdrückte Frauen, denn eine Vollverschleierung schotte muslimische Frauen total ab. „Die Burka ist ein uraltes Phänomen, das in unserer modernen und innovativen Gesellschaft keinen Platz hat.“Direkt unterstützen will er die Initiative zwar nicht. Der Imam hat ein linkes Manifest gegen die Vollverschleierung unterzeichnet, das sich auf die Gleichheit und Emanzipation der muslimischen Frauen konzentriert. Im Ergebnis könnten aber gerade die Stimmen linker Gruppierungen der SVP-nahen Initiative des Egerkinger Komitees zum Sieg verhelfen.
Dabei sind die Zustimmungswerte der Partei seit Jahren im Sinkflug. Grund für den aktuell überraschenden Zuspruch ist ein taktischer Winkelzug der Initiatoren, die bereits das Minarettverbot durchgesetzt haben und sich nun als Verfechter der Frauenrechte positionieren. „Ja zur Freiheit, Gleichberechtigung und Terrorabwehr“, heißt es auch auf der Homepage der SVP. Dass die rechtskonservative Partei plötzlich für Frauenrechte kämpft, hält der Kreuzlinger Imam allerdings für wenig glaubwürdig. Gelegenheiten, sich für das weibliche Geschlecht einzusetzen, hätte es in der Vergangenheit genug gegeben.
Neziri rattert die Jahreszahlen herunter: Als 1971 die Schweiz als eines der letzten Länder in Europa das Frauenwahlrecht eingeführt hat, war die SVP dagegen. Auch als 1981 die Gleichberechtigung in der Bundesverfassung festgeschrieben werden sollte, war die SVP nicht mit im Boot. Damals wurde in der Verfassung verankert, dass Frauen das Anrecht auf gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit zusteht. Als 2019 eine halbe Million Schweizerinnen beim Frauenstreik auf die Straße gingen, um dieses gleiche Geld für gleiche Arbeit einzufordern, stellte sich die SVP wieder nicht hinter die Frauen. Unterstützung sieht anders aus.
Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Auch Neziri ist entschieden gegen Burka und Niqab. „Aber ich bin der Meinung, dass ein Verbot nichts bringt. Eine Kleiderordnung gehört nicht in die Verfassung und ist nicht Sache des Staates. Die Frauen sollen selbst entscheiden, was sie tragen.“Wenn man die Unterdrückung der Frauen wirklich beenden will, solle man lieber die Männer bestrafen. Dazu gebe es in der Schweiz bereits den Straftatbestand der Nötigung.
Außerdem sei die Verankerung in der Bundesverfassung unverhältnismäßig. „Ich kenne keine einzige Frau, die eine Burka oder einen Niqab trägt“, sagt der Imam. In der ganzen Ostschweiz soll es keine geben. Dabei hat der Kanton St. Gallen 2019 ein Burkaverbot eingeführt. Angewandt wurde es im ersten Jahr
Rehan Neziri, Imam in Kreuzlingen, über Burka und Niqab offenbar nicht. Reine Symbolpolitik, schimpfen die Kritiker. Öffentlich sichtbar sind die verhüllten Frauen eher in Zürich oder Bern. Meist handelt es sich allerdings um reiche Touristinnen aus dem arabischen Raum.
Eine Studie des Zentrums für Religionsforschung in der Schweiz bestätigt Neziris Eindruck. Demnach würden nur maximal drei Dutzend Frauen in der gesamten Schweiz einen Niqab tragen, also einen Schleier, der das komplette Gesicht bedeckt und nur die Augen frei lässt. Die Burka, ein Ganzkörperschleier mit eingelassenem Sichtfenster, sehe man praktisch gar nicht. Auch das Bild, dass die Frauen sich gegen ihren Willen verhüllen müssen, trifft der Studie nach nicht zu. Die Frauen würden den Schleier aus eigener Überzeugung tragen. In der Regel sind sie durchschnittlich bis sehr gut gebildet, in der Schweiz aufgewachsen und erst später zum Islam konvertiert. Oft würden sie das Tragen nach einigen Jahren von allein aufgeben.
Dass gerade Konvertiten die Religion besonders streng auslegen, ist für Neziri nichts Neues. „Sie wollen es eben besonders richtig machen.“Dabei sei die Vollverschleierung eine kulturelle Tradition aus arabischen und afrikanischen Ländern. „Der Koran kennt solche Kleidervorschriften nicht.“Allerdings sind gerade Menschen mit wenig religiösem Wissen anfällig für extremistische Ideologien.
„Die Ursache für eine Radikalisierung ist aber nicht die Religion“, sagt Neziri. Entscheidend seien soziale und wirtschaftliche Umstände, aber auch schwierige Familienverhältnisse. Das habe auch das Bundeskriminalamt in Deutschland in einer Untersuchung bestätigt. Neziri hat selbst ein Buch dazu geschrieben. „Extremismus im Namen des Islam“heißt es übersetzt. Es geht um junge Menschen, die sich im Kosovo, in Deutschland und in der Schweiz radikalisiert haben. Denn auch wenn die Burka in der Region kein Thema ist – Hassprediger gab es hier sehr wohl. Im nahe gelegenen Winterthur wurde eine Moschee geschlossen, der Imam kam nach jahrelangen Umtrieben ins Gefängnis. Doch da waren bereits zahlreiche Jugendliche für die Terrororganisation des sogenannten „Islamischen Staates“in den Krieg gezogen.
Wer so eine Radikalisierung verhindern will, darf nicht an einem Stück Stoff ansetzen, sagt Neziri. „Wir verschwenden unsere Energie im falschen Bereich.“Jugendliche, die in die Fänge von Islamisten oder Neonazis gelangen, seien meist auf der Suche. Neziri ist es deshalb wichtig, mit den jungen Leuten seiner Gemeinde in Kontakt zu kommen, er organisiert Konzerte, Jugendgruppen und Fußballturniere. Ganz wichtig seien ein gutes Bildungssystem und niedrige Jugendarbeitslosigkeit wie in der Schweiz.
Auch kultureller Austausch erleichtert Integration. Im Klassenzimmer neben dem Gebetsraum unterrichtet Neziri, der nach seinem Theologiestudium in Sarajevo und der Türkei ein Masterstudium in Religionssoziologie absolviert hat, Kinder und Erwachsene. Es gibt sogar eine Frauengruppe. In der Schweizer Bildungslandschaft ist Neziri ein Pionier. Schon vor Jahren hat er in Kreuzlingen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen eingeführt. Anders als in BadenWürttemberg oder Österreich gibt es das nur in ganz wenigen Schweizer Gemeinden. Dabei können im Religionsunterricht viele Fragen geklärt werden und Gemeinsamkeiten mit christlichen Traditionen entdeckt werden. „Das ist mir ganz wichtig“, sagt Neziri. Das gemeinsame Gebet zum Beispiel, aber auch Jesus, Maria oder Abraham, die sowohl im Koran als auch in der Bibel auftauchen.
Auch als Bindeglied zwischen Schule und Elternhaus kann ein Imam eine wichtige Rolle spielen. Immer wieder fragen Eltern Neziri um Rat. Als ein Vater sein Kind nicht beim Fastnachtsumzug der Schule mitmachen lassen will, weil er glaubte, dass es ein heidnischer Brauch sei, stellt Neziri klar, dass
Fastnacht eine Tradition sei und das Kind bei Schulveranstaltungen mitmachen muss. Manchmal muss er auch zwischen Elternhaus und Schulbehörde vermitteln, etwa als ein Vater seine Tochter in der zweiten Klasse nicht einmal im Burkini zum Schwimmunterricht lassen wollte. Neziri stellte dann klar, dass das Mädchen zum Schwimmen muss, weil es Teil des Unterrichts ist, und der Koran Mädchen vor der Pubertät keine Kleidervorschriften macht. Außerdem werde in der Überlieferung explizit erwähnt, dass Eltern ihren Kindern Lesen, Schreiben, Reiten und Schwimmen beibringen sollen. Der Vater ließ sich trotzdem nicht überzeugen. Der Fall landete vor Gericht und machte überregional Schlagzeilen.
Manchmal bringen auch Textstellen aus dem Koran Muslime in Gewissenskonflikte. „Das Hauptproblem sind Elemente aus der arabischen Kultur der Zeit der Offenbarung des Korans“, sagt Neziri. „Wir müssen aber sehen, dass der Koran in einer anderen Zeit und einer anderen Kultur entstanden ist. Wenn sich die Religion aber nicht anpasst, würden Muslime hier in Europa immer als Fremde gesehen.“
Immer wieder werden auch kulturelle Traditionen mit religiösen Werten verwechselt. Wenn ein Vater den Ehemann der Tochter aussuchen will, erklärt der Imam, dass der Koran dagegen ist. „Mit Religion hat das nichts zu tun“, sagt er. Das ist einfach in manchen Regionen wie etwa Ostanatolien oder Teilen Afrikas Tradition.
Möglichkeiten, Extremismus entgegenzuwirken, gibt es viele, findet Neziri. Mit dem Verbot eines Stücks Stoff sei es aber nicht getan. Er hofft, dass sich die Bürger bei der Abstimmung der Empfehlung von Regierung, Parlament und dem Schweizerischen Rat der Religionen anschließen und das Burkaverbot ablehnen. Sein Bauchgefühl sagt ihm aber etwas anderes: „Wir spüren, dass es nicht um die Burka geht, sondern um uns. Das ist, was uns besonders schmerzt.“
„Der Koran kennt solche Vorschriften zur Kleidung nicht.“