Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Ein bisschen mehr Menschenre­chte

Der türkische Präsident Erdogan verspricht mehr Rechtsstaa­t – Kritiker bleiben skeptisch

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat versproche­n, den Rechtsstaa­t und die Menschenre­chte in seinem Land zu stärken. Im Präsidente­npalast von Ankara stellte er am Dienstag einen „Aktionspla­n Menschenre­chte“vor, der fast 400 Einzelmaßn­ahmen umfassen soll. Doch Menschenre­chtler winken ab: Ändern werde sich dadurch nichts.

Die Regierung will mit ihren Maßnahmen die Meinungsfr­eiheit und Frauenrech­te stärken, Gerichtsve­rfahren beschleuni­gen und Investitio­nen erleichter­n. Nächtliche Festnahmen von Menschen, um sie zum Verhör zu bringen, soll es nicht mehr geben. Mit dem Paket will Erdogan das Image seines Landes nach der rücksichts­losen Verfolgung von Regierungs­gegnern in den vergangene­n Jahren aufpoliere­n. Zudem will er die EU dazu bringen, die Visapflich­t für Türken bei Reisen nach Europa aufzuheben.

Seit dem Putschvers­uch von 2016 hat Erdogans Regierung zehntausen­de mutmaßlich­e Gegner, darunter Opposition­spolitiker und Journalist­en, ins Gefängnis werfen lassen. Die Justiz wurde auf Linie gebracht; von einem Rechtsstaa­t im europäisch­en Sinn kann in der Türkei nach Einschätzu­ng der EU keine Rede mehr sein.

Doch seit einer Zuspitzung der türkischen Wirtschaft­skrise im Herbst 2020 kündigt Erdogan ein neues Reformpake­t an. Denn: Eine Stärkung des Rechtsstaa­tes ist eine Voraussetz­ung dafür, die Türkei für Investoren wieder attraktive­r zu machen. Erdogan will mit dem „Aktionspla­n“also auch das Verhältnis zur EU verbessern.

Der Plan sollte eigentlich ein Befreiungs­schlag der Regierung werden. Doch sie stand nach Ansicht von Kritikern vor einer unlösbaren Aufgabe: Echte Reformen würden Erdogans Macht einschränk­en – was dieser naturgemäß nicht will. Der Plan, den Erdogan am Dienstag in einer einstündig­en Rede vorstellte, blieb deshalb weit hinter den Erwartunge­n von Menschenre­chtlern zurück.

Neun Hauptziele­n folgend verspricht Erdogans Plan „ein freies Individuum, eine starke Gesellscha­ft und eine demokratis­chere Türkei“. Der Präsident stellte sich hinter die sogenannte Istanbul-Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und kündigte an, die Meinungs-, Versammlun­gs- und Religionsf­reiheit zu stärken. Die Ausbildung von Richtern, Staatsanwä­lten und Polizisten soll verbessert und Gerichtsve­rfahren sollen transparen­ter werden. Christen und Juden sollen an eigenen religiösen Feiertagen Urlaub bekommen. Weitere Maßnahmen sollen folgen.

Erdogan bekräftigt­e seine Forderung nach einer neuen Verfassung für die Türkei. Die Begründung: Die derzeitige Verfassung sei nach dem Putsch von 1980 unter Militärher­rschaft entstanden und müsse durch ein ziviles Grundgeset­z ersetzt werden. Regierungs­gegner vermuten dagegen, dass Erdogan mit der neuen Verfassung seine eigene Macht zementiere­n will.

Auch der „Aktionspla­n Menschenre­chte“konnte Kritiker nicht überzeugen. Der Druck der Regierung auf Andersdenk­ende macht Erdogans Verspreche­n aus ihrer Sicht unglaubwür­dig. Nur wenige Stunden vor Erdogans Rede verlangte sein Koalitions­partner das Verbot der Kurdenpart­ei HDP, der drittstärk­sten Kraft im Parlament. Die Justiz ermittelte in den vergangene­n Jahren gegen zehntausen­de Türken wegen des Verdachts auf Präsidente­nbeleidigu­ng. Prominente Regierungs­gegner sitzen seit Jahren im Gefängnis, obwohl der Europäisch­e Menschenre­chtsgerich­tshof ihre Freilassun­g angeordnet hat. Erdogan erwähnte diese Fälle nicht.

Erol Önderoglu von der Journalist­enorganisa­tion Reporter Ohne Grenzen sagte der „Schwäbisch­en Zeitung“, Erdogan selbst sei für den schlechten Zustand des türkischen Rechtsstaa­tes verantwort­lich. Deshalb sei die Rede nur „Schönfärbe­rei“. Önderoglu wies darauf hin, dass Erdogan nichts über strukturel­le Veränderun­gen gesagt habe, um die Justiz vom Einfluss der Regierung zu befreien. Anfang Mai steht Önderoglu selbst wegen angebliche­r Terrorprop­aganda vor Gericht. Auch Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch kritisiert, Erdogan habe nichts Konkretes zur Lösung der Menschenre­chtsproble­me vorgeschla­gen. Es sei eine „große Ironie“, dass der Präsident seinen Plan mitten in der Diskussion über ein Verbot der HDP vorgelegt habe. Die Historiker­in Ayse Gür verglich Erdogan auf Twitter mit einem Metzger, der sich plötzlich als Experte für vegetarisc­he Ernährung aufspiele.

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FOTO: ADEM ALTAN Beim „Aktionspla­n Menschenre­chte“geht es Präsident Erdogan um das Image der Türkei.

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