Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Ein bisschen mehr Menschenrechte
Der türkische Präsident Erdogan verspricht mehr Rechtsstaat – Kritiker bleiben skeptisch
ISTANBUL - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat versprochen, den Rechtsstaat und die Menschenrechte in seinem Land zu stärken. Im Präsidentenpalast von Ankara stellte er am Dienstag einen „Aktionsplan Menschenrechte“vor, der fast 400 Einzelmaßnahmen umfassen soll. Doch Menschenrechtler winken ab: Ändern werde sich dadurch nichts.
Die Regierung will mit ihren Maßnahmen die Meinungsfreiheit und Frauenrechte stärken, Gerichtsverfahren beschleunigen und Investitionen erleichtern. Nächtliche Festnahmen von Menschen, um sie zum Verhör zu bringen, soll es nicht mehr geben. Mit dem Paket will Erdogan das Image seines Landes nach der rücksichtslosen Verfolgung von Regierungsgegnern in den vergangenen Jahren aufpolieren. Zudem will er die EU dazu bringen, die Visapflicht für Türken bei Reisen nach Europa aufzuheben.
Seit dem Putschversuch von 2016 hat Erdogans Regierung zehntausende mutmaßliche Gegner, darunter Oppositionspolitiker und Journalisten, ins Gefängnis werfen lassen. Die Justiz wurde auf Linie gebracht; von einem Rechtsstaat im europäischen Sinn kann in der Türkei nach Einschätzung der EU keine Rede mehr sein.
Doch seit einer Zuspitzung der türkischen Wirtschaftskrise im Herbst 2020 kündigt Erdogan ein neues Reformpaket an. Denn: Eine Stärkung des Rechtsstaates ist eine Voraussetzung dafür, die Türkei für Investoren wieder attraktiver zu machen. Erdogan will mit dem „Aktionsplan“also auch das Verhältnis zur EU verbessern.
Der Plan sollte eigentlich ein Befreiungsschlag der Regierung werden. Doch sie stand nach Ansicht von Kritikern vor einer unlösbaren Aufgabe: Echte Reformen würden Erdogans Macht einschränken – was dieser naturgemäß nicht will. Der Plan, den Erdogan am Dienstag in einer einstündigen Rede vorstellte, blieb deshalb weit hinter den Erwartungen von Menschenrechtlern zurück.
Neun Hauptzielen folgend verspricht Erdogans Plan „ein freies Individuum, eine starke Gesellschaft und eine demokratischere Türkei“. Der Präsident stellte sich hinter die sogenannte Istanbul-Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und kündigte an, die Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit zu stärken. Die Ausbildung von Richtern, Staatsanwälten und Polizisten soll verbessert und Gerichtsverfahren sollen transparenter werden. Christen und Juden sollen an eigenen religiösen Feiertagen Urlaub bekommen. Weitere Maßnahmen sollen folgen.
Erdogan bekräftigte seine Forderung nach einer neuen Verfassung für die Türkei. Die Begründung: Die derzeitige Verfassung sei nach dem Putsch von 1980 unter Militärherrschaft entstanden und müsse durch ein ziviles Grundgesetz ersetzt werden. Regierungsgegner vermuten dagegen, dass Erdogan mit der neuen Verfassung seine eigene Macht zementieren will.
Auch der „Aktionsplan Menschenrechte“konnte Kritiker nicht überzeugen. Der Druck der Regierung auf Andersdenkende macht Erdogans Versprechen aus ihrer Sicht unglaubwürdig. Nur wenige Stunden vor Erdogans Rede verlangte sein Koalitionspartner das Verbot der Kurdenpartei HDP, der drittstärksten Kraft im Parlament. Die Justiz ermittelte in den vergangenen Jahren gegen zehntausende Türken wegen des Verdachts auf Präsidentenbeleidigung. Prominente Regierungsgegner sitzen seit Jahren im Gefängnis, obwohl der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ihre Freilassung angeordnet hat. Erdogan erwähnte diese Fälle nicht.
Erol Önderoglu von der Journalistenorganisation Reporter Ohne Grenzen sagte der „Schwäbischen Zeitung“, Erdogan selbst sei für den schlechten Zustand des türkischen Rechtsstaates verantwortlich. Deshalb sei die Rede nur „Schönfärberei“. Önderoglu wies darauf hin, dass Erdogan nichts über strukturelle Veränderungen gesagt habe, um die Justiz vom Einfluss der Regierung zu befreien. Anfang Mai steht Önderoglu selbst wegen angeblicher Terrorpropaganda vor Gericht. Auch Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch kritisiert, Erdogan habe nichts Konkretes zur Lösung der Menschenrechtsprobleme vorgeschlagen. Es sei eine „große Ironie“, dass der Präsident seinen Plan mitten in der Diskussion über ein Verbot der HDP vorgelegt habe. Die Historikerin Ayse Gür verglich Erdogan auf Twitter mit einem Metzger, der sich plötzlich als Experte für vegetarische Ernährung aufspiele.