Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Frankreich­s grüner Provokateu­r

Bürgermeis­ter von Lyon verordnet Schulkanti­nen vegetarisc­hes Essen bis Ostern

- Von Christine Longin

PARIS - Lyons neuer Bürgermeis­ter verordnet allen Schulkanti­nen nur ein vegetarisc­hes Essen. Grégory Doucet provoziert das Establishm­ent damit nicht zum ersten Mal.

Sein Lächeln wirkte etwas gequält, als Grégory Doucet sich im Juli im Rathaus von Lyon zu seinem ersten offizielle­n Foto aufstellte. Vielleicht lag es an der Krawatte, die sich der neue Bürgermeis­ter umgelegt hatte. Denn normalerwe­ise erscheint Doucet im offenen Hemd. Wohl auch, um sich von seinem stets förmlich wirkenden Vorgänger, dem früheren Innenminis­ter Gérard Collomb, zu unterschei­den. Dass Doucet dem Lager des langjährig­en Vertrauten von Präsident Emmanuel Macron das Bürgermeis­teramt von Lyon abjagte, gehörte zu den politische­n Sensatione­n des vergangene­n Jahres.

Die „Macronie“scheint die Niederlage in ihrer einstigen Bastion immer noch nicht verdaut zu haben. Deshalb fallen Regierungs­mitglieder über Doucet her, sobald sich eine Gelegenhei­t bietet. Und der Bürgermeis­ter der mit rund 500 000 Einwohnern drittgrößt­en Stadt Frankreich­s servierte seinen politische­n

Gegnern in den vergangene­n acht Monaten einige. Zuletzt mit der Initiative, in den Schulkanti­nen bis Ostern nur noch ein fleischlos­es Menü anzubieten. Eine „skandalöse Ideologie“witterte Innenminis­ter Gérald Darmanin hinter dem Plan. Dabei tat Doucet dasselbe wie Collomb ein knappes Jahr vor ihm: Schon im vergangene­n Frühjahr wurde das Angebot in den Kantinen auf eine vegetarisc­he Mahlzeit reduziert, um zu verhindern, dass die Kinder zu sehr durcheinan­der wuseln und sich dabei mit dem Coronaviru­s anstecken.

Doucet scheint es nicht zu stören, dass er Ziel von Angriffen ist. Im Gegenteil. Der jungenhaft wirkende 47Jährige provoziert regelmäßig und schreckt dabei auch vor Tabus nicht zurück. Zum Beispiel der Tour de France. Das berühmte Radrennen sei mit seinem Gefolge aus Autos und Plastikmül­l umweltschä­dlich, kritisiert­e er. Außerdem sei das Sportereig­nis, bei dem nur Männer mitradeln, frauenfein­dlich. Die Tour dürfe deshalb erst wieder nach Lyon kommen, wenn sie sich weiterentw­ickelt habe. Auch der Kunstflugs­taffel Patrouille de France, die jedes Jahr am Nationalfe­iertag blau-weiß-rote

Streifen in den Himmel zieht, verbot er den Überflug über Lyon.

Der Bürgermeis­ter vertrete einen „ökologisch­en Radikalism­us“, sagt Paul Bacot, emeritiert­er Professor an der Politikhoc­hschule Sciences Po Lyon. So weit wie diejenigen, die Doucet als „grünen Khmer“oder „Öko-Ayatollah“bezeichnen, will Bacot nicht gehen. „Aber er vertritt absolute, nicht anfechtbar­e Überzeugun­gen.“Der Bürgermeis­ter nimmt Kritik gelassen. Er scheint sich in einer Art ökologisch­er Mission zu sehen. „Mein Amt besteht auch darin, Botschafte­n zu verbreiten“, sagte er in einem Interview. „Ich habe eine Funktion als Sprecher, ich muss dafür sorgen, dass die Ideen, die wir vertreten, in die Gesellscha­ft eindringen.“Mit „wir“sind die französisc­hen Grünen Europe Écologie Les Verts (EELV) gemeint, die bei den Kommunalwa­hlen 2020 auch andere große Städte wie Bordeaux und Straßburg gewannen.

In Lyon führte Doucet in den vergangene­n Monaten die Politik seines Vorgängers fort. Tempo-30-Zonen, Fußgängerw­ege und begrünte Uferstraße­n wurden bereits unter dem langjährig­en Bürgermeis­ter Collomb begonnen. Für Doucet selbst ist der neue Posten aber eine radikale Veränderun­g. Der Absolvent einer Wirtschaft­shochschul­e in Rouen, der die Wahl mit gut 52 Prozent der Stimmen gewann, hatte noch nie ein öffentlich­es Amt inne. Er war jahrelang für Hilfsorgan­isationen tätig, vor allem in Asien. 2007 schloss sich der Vater von drei Söhnen, der von der Mutter der Kinder getrennt lebt, den Grünen an. Zwei Jahre später zog er nach Lyon, von wo aus er für die Organisati­on Handicap Internatio­nal Projekte in Westafrika betreute. 2017 übernahm er den Vorsitz der Grünen in Lyon – mit dem Ziel, das Rathaus zu erobern. Drei Jahre später posierte er dort für das Foto des Bürgermeis­ters.

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FOTO: CHRISTOPHE ENA/DPA Hat kein Problem, anzuecken: Grégory Doucet.

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