Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Rolls-Royce in schweren Turbulenzen
Der Mutter des Friedrichshafener Motorenbauers setzt Corona zu – Unsicherheit bei Liebherr-Joint-Venture
LONDON/FRIEDRICHSHAFEN - Viel Frohsinn ist nicht zu erwarten, wenn der britische Triebwerks- und Rüstungskonzern Rolls-Royce in zehn Tagen seine Jahreszahlen verkündet. Corona hat die Krise des Unternehmens mit Sitz im englischen Derby weiter verschärft. Die Pandemie brachte im vergangenen Jahr laut Vorstandschef Warren East die „dunkelste Stunde“der Unternehmensgeschichte. Im Dezember warnte RollsRoyce die Börse vor einem massiven Rückgang der liquiden Mittel: Die Differenz zwischen beim Konzern ankommenden Zahlungen und Zahlungsverpflichtungen (Cashflow) im vergangenen Kalenderjahr werde wohl bei umgerechnet minus 4,86 Milliarden Euro liegen. Einen Monat später kündigte East an, dass der Konzern, der sein Hauptgeschäft mit dem Bau von Triebwerken für Passagierflugzeuge macht, frühestens im zweiten Halbjahr 2021 wieder einen positiven Cashflow ausweist.
Die Lage der Luftfahrt-Branche ist katastrophal. Air-France-KLM meldete Mitte Februar einen Rekordverlust von 7,1 Milliarden Euro. Vergangene Woche legte die IAG-Holding, Besitzer der Fluggesellschaften British Airways, Iberia und Air Lingus, mit einem operativen Verlust von 7,4 Milliarden Euro nach. Der französisch-niederländische Konzern rechnet bis auf Weiteres mit Flugbewegungen von 40 Prozent im Vergleich zu 2019, also vor der CoronaPandemie; IAG ist mit 20 Prozent noch pessimistischer.
Die Lage vieler großer Fluggesellschaften ist Gift für den Konzern Rolls-Royce, dessen Geschäftsmodell auf langfristigen Wartungsverträgen für einmal gebaute, häufig mit Verlust verkaufte Triebwerke beruht. Wenn die Passagierjets am Boden verharren, gibt es nichts zu warten und nichts zu verdienen. Dabei liegen die Prognosen von Air-FranceKLM und IAG deutlich unter der Erwartung, die Rolls-Royce Ende Januar veröffentlichte. Damals war fürs gesamte Jahr 2021 von 55 Prozent der Flugbewegungen im Vergleich zu 2019 die Rede.
Rolls-Royce reagiert, muss reagieren. Das von Warren East angekündigte Sparprogramm bedeutet einen tiefen Einschnitt. Jeder sechste Arbeitsplatz wird verschwinden, insgesamt verlieren 9000 Menschen ihre Arbeit, überwiegend im Unternehmensteil zivile Luftfahrt. Und die Zukunftsstrategie des Konzerns ändert sich – das Management passt es an die neuesten Prognosen für die Aussichten in der Luftfahrtbranche an.
Rolls-Royce-Chef East hatte Anfang des Jahres sogar das ehrgeizigste Projekt des Konzern infrage gestellt: die Arbeit am Ultrafan-Triebwerk, das dem Unternehmen den Weg zurück in den Markt für Kurzstreckenjets ebnen sollte, den RollsRoyce vor einem Jahrzehnt zugunsten der damals lukrativeren Langstrecken-Flugzeuge
aufgegeben hatte. Treibstoffersparnis: 25 Prozent im Vergleich zum beispielsweise im A330 eingebauten Motor Trent 700. „Ich kann die Flugzeugbauer nicht zwingen, neue Jets zu erfinden, und wenn es keine Nachfrage nach ihnen gibt, dann gibt es auch keine Nachfrage nach den Motoren“, hatte East der britischen „Financial Times“gesagt und damit auch am Bodensee für Entsetzen gesorgt.
Denn das Getriebe, das Herzstück des Triebwerks, entwickelt der Konzern nicht allein, sondern zusammen mit dem Allgäuer Luftfahrtzulieferer Liebherr Aerospace aus Lindenberg. Dafür haben die Unternehmen das Joint Venture Aerospace Transmission Technology (ATT) gegründet, die Gemeinschaftsfirma mit 40 Mitarbeitern hat ihren Sitz im LiebherrWerk in Friedrichshafen. Auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“relativierte Rolls-Royce am Dienstag die Aussage Warren Easts. „Der Ultrafan ist ein wichtiger Teil unserer Nachhaltigkeitsstrategie, und wir sind weiterhin fest entschlossen, eine Gasturbine der nächsten Generation zu entwickeln, die die Emissionen im Vergleich zur ersten Trent-Generation um 25 Prozent reduzieren wird“, sagte ein Rolls-Royce-Sprecher. „Effiziente Gasturbinen werden auch in der Zeit nach der Covid-Pandemie benötigt, da sie die einzige effektive Möglichkeit bleiben, Menschen über lange Strecken zu transportieren.“
Zurzeit fertige das Unternehmen Teile für ein erstes Demonstrationstriebwerk, das bis Ende 2021 testbereit sein soll. Am brandenburgischen
Standort Dahlewitz erfolge gerade die Montage des ersten Leistungsgetriebes für den Demonstrator – „die Arbeit des Teams bei ATT ist hierfür von zentraler Bedeutung“, sagte der Sprecher weiter. Natürlich werde die Inbetriebnahme von den Kundenanforderungen abhängen. „Wir sind nach wie vor bestrebt, zum Ende der Dekade ein Produkt auf den Markt zu bringen, aber in der Phase nach den Tests müssen wir natürlich weiterhin die Kundenanforderungen beobachten.“An der Aufgabe, die „Fähigkeit und Kapazität zur Produktion von Leistungsgetrieben für eine neue Generation von Rolls-RoyceFlugzeugtriebwerken zu entwickeln“, hat sich laut ATT-Geschäftsführung nichts geändert.
Wenige Hundert Meter weg vom Rolls-Royce-Standort im Friedrichshafener Seewald läuft es bei einem anderen Unternehmen des britischen Konzerns wesentlich besser. Trotz der Pandemie, trotz des wirtschaftlichen Einbruchs aufgrund der Corona-Krise wird der Motorenbauer Rolls-Royce Power Systems (RRPS) mit seiner traditionsreichen Marke MTU das Jahr 2020 mit schwarzen Zahlen abschließen. Die hundertprozentige Tochter von Rolls-Royce, die zu den weltweit führenden Anbietern von schweren Dieselmotoren gehört und zuletzt ihr Angebot im Bereich Brennstoffzelle, Energiespeicher und netzunabhängige Stromversorgung ausbaute, ist für den britischen Konzern neben dem Verteidigungsgeschäft die einzige Sparte, die zuverlässig Gewinne nach Derby überweist.
Gerüchte über einen Verkauf von RRPS, die im vergangenen Sommer kursierten und mit denen sich RollsRoyce einen Teil der Geldsorgen entledigen könnte, hatte RRPS-Vorstandschef Andreas Schell im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“nicht kommentiert – vielmehr hatte er die gute Zusammenarbeit mit dem Mutterkonzern betont. „Rolls-Royce hat Erwartungen an uns, unterstützt unsere Transformationsstrategie aber uneingeschränkt, auch finanziell. Als Geschäftsbereich Power Systems haben wir die Freiheit zu bestimmen, wohin wir uns entwickeln wollen. Und das unter dem Dach eines global aufgestellten Industriekonzerns, der Interesse an Technologie hat. Das passt“, lautete im Dezember die Antwort Schells auf die Frage, ob es dem Motorenbauer nicht unter einem neuen Eigentümer besser gehen könnte.
Im Hinblick auf die im November geplante Klimakonferenz in Glasgow hat Rolls-Royce die Kooperation mit der deutschen Tochter sogar noch einmal intensiviert. Nach Informationen der „Schwäbischen Zeitung“aus Unternehmenskreisen will der britische Konzern sich in Schottland mit Systemen zur Dekarbonisierung des Antriebsstranges und der Energieversorgung präsentieren, also den Techniken, die die RRPS-Mitarbeiter in Friedrichshafen am Bodensee für den ganzen Konzern entwickeln.
Aber auch im Bereich der Luftfahrt gab es zu Wochenbeginn einen Lichtblick zu vermelden. Da beförderte ein neugebauter Elektromotor mit über 500 PS ein kleines Propellerflugzeug
sicher über die Rollbahn; noch in diesem Frühjahr soll die „Spirit of Innovation“zum Erstflug abheben. Vor Begeisterung beförderte die Presseabteilung einen nachgeordneten Wirtschaft-Staatssekretär der britischen Regierung zum Ministe, dessen Haus die Hälfte der Entwicklungskosten gezahlt hatte.
An den grundlegenden Problemen von Rolls-Royce ändert die „Spirit of Innovation“und die grüne Technologie vom Bodensee aber nichts. Muss die Tory-Regierung von Großbritanniens Premier Boris Johnson womöglich sogar dem Industrie-Giganten selbst unter die Arme greifen? Mit dieser Spekulation wartete kürzlich die „Sunday Times“auf. Schon einmal durchlief Rolls-Royce eine Nationalisierung, nachdem sich 1971 eine neue Turbine als kompletter Flop herausstellte. Unter dem damaligen Premier Edward Heath wurde der 1904 von Henry Royce und Charles Rolls gegründete Motorenbauer geteilt. Die Flugzeugsparte übernahm bis zur neuerlichen Privatisierung 1987 der Staat, der Automobilbauer kam schon 1973 in private Hand – er gehört seit 2000 zu BMW.
Steht dem längst global aufgestellten Konzern Rolls-Royce nun Ähnliches bevor wie vor 50 Jahren? Für „albern“hält der Londoner Analyst Howard Wheeldon solche Spekulationen. Als „erstaunlichen Unsinn“bezeichnet er auch die Idee, Flugzeugbauer Airbus könnte sich einen seiner wichtigsten Zulieferer einverleiben. Für diese erstaunliche Idee spricht dem Analysten Nick Cunningham von Agency Partners nach immerhin ein Gedanke: der enorme Druck auf die Luftfahrt, von schmutzigem Treibstoff wegzukommen und zunehmend Elektroantriebe zu nutzen. Zukünftige Modelle könnten deshalb stärker als bisher den Rumpf und die Antriebszellen verschmelzen, anstatt wie bisher die Triebwerke an die Flügel zu hängen.
Unter Analysten an der Londoner Börse gilt die Rolls-Royce-Aktie als Marmite-Papier, benannt nach dem Werbeslogan für den vegetarischen Brotaufstrich „Love it or hate it“. Die Anhänger des Konzerns verweisen auf die Rolls-Royce-Expertise im lukrativen Turbinenbau und die Funktion als Leuchtturm in der verarbeitenden Industrie, die auf der Insel wenige Weltfirmen vorweisen kann. Skeptiker verweisen auf umfangreiche Schmiergeldzahlungen und daraus resultierende Aufträge, die um die Jahrhundertwende erheblich zur enormen Expansion des Unternehmens beitrugen. Zudem werden zukünftig Milliarden-Investitionen fällig, um die Produktlinien an die dringlicher werdenden Forderungen aus Politik und Gesellschaft nach Klimaneutralität anzupassen.
Notierte die RR-Aktie vor Jahresfrist an der Londoner Börse noch bei 218 Pence, musste sie in der Pandemie heftig Federn lassen und stand im Oktober nur noch bei 39 Pence. Am Montagnachmittag kostete das Papier 110,65 Pence.