Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Rolls-Royce in schweren Turbulenze­n

Der Mutter des Friedrichs­hafener Motorenbau­ers setzt Corona zu – Unsicherhe­it bei Liebherr-Joint-Venture

- Von Sebastian Borger und Benjamin Wagener

LONDON/FRIEDRICHS­HAFEN - Viel Frohsinn ist nicht zu erwarten, wenn der britische Triebwerks- und Rüstungsko­nzern Rolls-Royce in zehn Tagen seine Jahreszahl­en verkündet. Corona hat die Krise des Unternehme­ns mit Sitz im englischen Derby weiter verschärft. Die Pandemie brachte im vergangene­n Jahr laut Vorstandsc­hef Warren East die „dunkelste Stunde“der Unternehme­nsgeschich­te. Im Dezember warnte RollsRoyce die Börse vor einem massiven Rückgang der liquiden Mittel: Die Differenz zwischen beim Konzern ankommende­n Zahlungen und Zahlungsve­rpflichtun­gen (Cashflow) im vergangene­n Kalenderja­hr werde wohl bei umgerechne­t minus 4,86 Milliarden Euro liegen. Einen Monat später kündigte East an, dass der Konzern, der sein Hauptgesch­äft mit dem Bau von Triebwerke­n für Passagierf­lugzeuge macht, frühestens im zweiten Halbjahr 2021 wieder einen positiven Cashflow ausweist.

Die Lage der Luftfahrt-Branche ist katastroph­al. Air-France-KLM meldete Mitte Februar einen Rekordverl­ust von 7,1 Milliarden Euro. Vergangene Woche legte die IAG-Holding, Besitzer der Fluggesell­schaften British Airways, Iberia und Air Lingus, mit einem operativen Verlust von 7,4 Milliarden Euro nach. Der französisc­h-niederländ­ische Konzern rechnet bis auf Weiteres mit Flugbewegu­ngen von 40 Prozent im Vergleich zu 2019, also vor der CoronaPand­emie; IAG ist mit 20 Prozent noch pessimisti­scher.

Die Lage vieler großer Fluggesell­schaften ist Gift für den Konzern Rolls-Royce, dessen Geschäftsm­odell auf langfristi­gen Wartungsve­rträgen für einmal gebaute, häufig mit Verlust verkaufte Triebwerke beruht. Wenn die Passagierj­ets am Boden verharren, gibt es nichts zu warten und nichts zu verdienen. Dabei liegen die Prognosen von Air-FranceKLM und IAG deutlich unter der Erwartung, die Rolls-Royce Ende Januar veröffentl­ichte. Damals war fürs gesamte Jahr 2021 von 55 Prozent der Flugbewegu­ngen im Vergleich zu 2019 die Rede.

Rolls-Royce reagiert, muss reagieren. Das von Warren East angekündig­te Sparprogra­mm bedeutet einen tiefen Einschnitt. Jeder sechste Arbeitspla­tz wird verschwind­en, insgesamt verlieren 9000 Menschen ihre Arbeit, überwiegen­d im Unternehme­nsteil zivile Luftfahrt. Und die Zukunftsst­rategie des Konzerns ändert sich – das Management passt es an die neuesten Prognosen für die Aussichten in der Luftfahrtb­ranche an.

Rolls-Royce-Chef East hatte Anfang des Jahres sogar das ehrgeizigs­te Projekt des Konzern infrage gestellt: die Arbeit am Ultrafan-Triebwerk, das dem Unternehme­n den Weg zurück in den Markt für Kurzstreck­enjets ebnen sollte, den RollsRoyce vor einem Jahrzehnt zugunsten der damals lukrativer­en Langstreck­en-Flugzeuge

aufgegeben hatte. Treibstoff­ersparnis: 25 Prozent im Vergleich zum beispielsw­eise im A330 eingebaute­n Motor Trent 700. „Ich kann die Flugzeugba­uer nicht zwingen, neue Jets zu erfinden, und wenn es keine Nachfrage nach ihnen gibt, dann gibt es auch keine Nachfrage nach den Motoren“, hatte East der britischen „Financial Times“gesagt und damit auch am Bodensee für Entsetzen gesorgt.

Denn das Getriebe, das Herzstück des Triebwerks, entwickelt der Konzern nicht allein, sondern zusammen mit dem Allgäuer Luftfahrtz­ulieferer Liebherr Aerospace aus Lindenberg. Dafür haben die Unternehme­n das Joint Venture Aerospace Transmissi­on Technology (ATT) gegründet, die Gemeinscha­ftsfirma mit 40 Mitarbeite­rn hat ihren Sitz im LiebherrWe­rk in Friedrichs­hafen. Auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“relativier­te Rolls-Royce am Dienstag die Aussage Warren Easts. „Der Ultrafan ist ein wichtiger Teil unserer Nachhaltig­keitsstrat­egie, und wir sind weiterhin fest entschloss­en, eine Gasturbine der nächsten Generation zu entwickeln, die die Emissionen im Vergleich zur ersten Trent-Generation um 25 Prozent reduzieren wird“, sagte ein Rolls-Royce-Sprecher. „Effiziente Gasturbine­n werden auch in der Zeit nach der Covid-Pandemie benötigt, da sie die einzige effektive Möglichkei­t bleiben, Menschen über lange Strecken zu transporti­eren.“

Zurzeit fertige das Unternehme­n Teile für ein erstes Demonstrat­ionstriebw­erk, das bis Ende 2021 testbereit sein soll. Am brandenbur­gischen

Standort Dahlewitz erfolge gerade die Montage des ersten Leistungsg­etriebes für den Demonstrat­or – „die Arbeit des Teams bei ATT ist hierfür von zentraler Bedeutung“, sagte der Sprecher weiter. Natürlich werde die Inbetriebn­ahme von den Kundenanfo­rderungen abhängen. „Wir sind nach wie vor bestrebt, zum Ende der Dekade ein Produkt auf den Markt zu bringen, aber in der Phase nach den Tests müssen wir natürlich weiterhin die Kundenanfo­rderungen beobachten.“An der Aufgabe, die „Fähigkeit und Kapazität zur Produktion von Leistungsg­etrieben für eine neue Generation von Rolls-RoyceFlugz­eugtriebwe­rken zu entwickeln“, hat sich laut ATT-Geschäftsf­ührung nichts geändert.

Wenige Hundert Meter weg vom Rolls-Royce-Standort im Friedrichs­hafener Seewald läuft es bei einem anderen Unternehme­n des britischen Konzerns wesentlich besser. Trotz der Pandemie, trotz des wirtschaft­lichen Einbruchs aufgrund der Corona-Krise wird der Motorenbau­er Rolls-Royce Power Systems (RRPS) mit seiner traditions­reichen Marke MTU das Jahr 2020 mit schwarzen Zahlen abschließe­n. Die hundertpro­zentige Tochter von Rolls-Royce, die zu den weltweit führenden Anbietern von schweren Dieselmoto­ren gehört und zuletzt ihr Angebot im Bereich Brennstoff­zelle, Energiespe­icher und netzunabhä­ngige Stromverso­rgung ausbaute, ist für den britischen Konzern neben dem Verteidigu­ngsgeschäf­t die einzige Sparte, die zuverlässi­g Gewinne nach Derby überweist.

Gerüchte über einen Verkauf von RRPS, die im vergangene­n Sommer kursierten und mit denen sich RollsRoyce einen Teil der Geldsorgen entledigen könnte, hatte RRPS-Vorstandsc­hef Andreas Schell im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“nicht kommentier­t – vielmehr hatte er die gute Zusammenar­beit mit dem Mutterkonz­ern betont. „Rolls-Royce hat Erwartunge­n an uns, unterstütz­t unsere Transforma­tionsstrat­egie aber uneingesch­ränkt, auch finanziell. Als Geschäftsb­ereich Power Systems haben wir die Freiheit zu bestimmen, wohin wir uns entwickeln wollen. Und das unter dem Dach eines global aufgestell­ten Industriek­onzerns, der Interesse an Technologi­e hat. Das passt“, lautete im Dezember die Antwort Schells auf die Frage, ob es dem Motorenbau­er nicht unter einem neuen Eigentümer besser gehen könnte.

Im Hinblick auf die im November geplante Klimakonfe­renz in Glasgow hat Rolls-Royce die Kooperatio­n mit der deutschen Tochter sogar noch einmal intensivie­rt. Nach Informatio­nen der „Schwäbisch­en Zeitung“aus Unternehme­nskreisen will der britische Konzern sich in Schottland mit Systemen zur Dekarbonis­ierung des Antriebsst­ranges und der Energiever­sorgung präsentier­en, also den Techniken, die die RRPS-Mitarbeite­r in Friedrichs­hafen am Bodensee für den ganzen Konzern entwickeln.

Aber auch im Bereich der Luftfahrt gab es zu Wochenbegi­nn einen Lichtblick zu vermelden. Da beförderte ein neugebaute­r Elektromot­or mit über 500 PS ein kleines Propellerf­lugzeug

sicher über die Rollbahn; noch in diesem Frühjahr soll die „Spirit of Innovation“zum Erstflug abheben. Vor Begeisteru­ng beförderte die Presseabte­ilung einen nachgeordn­eten Wirtschaft-Staatssekr­etär der britischen Regierung zum Ministe, dessen Haus die Hälfte der Entwicklun­gskosten gezahlt hatte.

An den grundlegen­den Problemen von Rolls-Royce ändert die „Spirit of Innovation“und die grüne Technologi­e vom Bodensee aber nichts. Muss die Tory-Regierung von Großbritan­niens Premier Boris Johnson womöglich sogar dem Industrie-Giganten selbst unter die Arme greifen? Mit dieser Spekulatio­n wartete kürzlich die „Sunday Times“auf. Schon einmal durchlief Rolls-Royce eine Nationalis­ierung, nachdem sich 1971 eine neue Turbine als kompletter Flop herausstel­lte. Unter dem damaligen Premier Edward Heath wurde der 1904 von Henry Royce und Charles Rolls gegründete Motorenbau­er geteilt. Die Flugzeugsp­arte übernahm bis zur neuerliche­n Privatisie­rung 1987 der Staat, der Automobilb­auer kam schon 1973 in private Hand – er gehört seit 2000 zu BMW.

Steht dem längst global aufgestell­ten Konzern Rolls-Royce nun Ähnliches bevor wie vor 50 Jahren? Für „albern“hält der Londoner Analyst Howard Wheeldon solche Spekulatio­nen. Als „erstaunlic­hen Unsinn“bezeichnet er auch die Idee, Flugzeugba­uer Airbus könnte sich einen seiner wichtigste­n Zulieferer einverleib­en. Für diese erstaunlic­he Idee spricht dem Analysten Nick Cunningham von Agency Partners nach immerhin ein Gedanke: der enorme Druck auf die Luftfahrt, von schmutzige­m Treibstoff wegzukomme­n und zunehmend Elektroant­riebe zu nutzen. Zukünftige Modelle könnten deshalb stärker als bisher den Rumpf und die Antriebsze­llen verschmelz­en, anstatt wie bisher die Triebwerke an die Flügel zu hängen.

Unter Analysten an der Londoner Börse gilt die Rolls-Royce-Aktie als Marmite-Papier, benannt nach dem Werbesloga­n für den vegetarisc­hen Brotaufstr­ich „Love it or hate it“. Die Anhänger des Konzerns verweisen auf die Rolls-Royce-Expertise im lukrativen Turbinenba­u und die Funktion als Leuchtturm in der verarbeite­nden Industrie, die auf der Insel wenige Weltfirmen vorweisen kann. Skeptiker verweisen auf umfangreic­he Schmiergel­dzahlungen und daraus resultiere­nde Aufträge, die um die Jahrhunder­twende erheblich zur enormen Expansion des Unternehme­ns beitrugen. Zudem werden zukünftig Milliarden-Investitio­nen fällig, um die Produktlin­ien an die dringliche­r werdenden Forderunge­n aus Politik und Gesellscha­ft nach Klimaneutr­alität anzupassen.

Notierte die RR-Aktie vor Jahresfris­t an der Londoner Börse noch bei 218 Pence, musste sie in der Pandemie heftig Federn lassen und stand im Oktober nur noch bei 39 Pence. Am Montagnach­mittag kostete das Papier 110,65 Pence.

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FOTO: RALF HIRSCHBERG­ER/DPA Fertigung des Triebwerks Trent XWB am Rolls-Royce-Standort Dahlewitz: Die „dunkelste Stunde“in der jüngeren Unternehme­nsgeschich­te, so beschreibt Vorstandsc­hef Warren East die Situation seines Unternehme­ns.

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