Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Über Live-Musik und Methadon
Ich fahre mit meinem Auto. Das hat eine kleine Festplatte, auf der ein gewisser Teil meiner liebsten Songs gespeichert ist. Weil weder Frau noch Kinder noch Hund mitfahren und mir der Sinn nach Musik steht, wähle ich einen Track aus und dann stelle ich lauter. „Herrlich“, denke ich und genieße einen kleinen Kick. Dann erinnere ich mich, wie diese Band diesen Song vor vielen Jahren in einem kleinen Club in Trier gespielt hat und wie geil dieses Konzert war und wie wir abgegangen sind. Mein Gehirn schiebt ungefragt, aber unbremsbar ungezählte andere Live-Konzerte – mit großen, kleineren oder auch den meisten völlig unbekannten Bands – in meine Erinnerungstimeline. Und da merke ich, dass mir inzwischen etwas Musikalisches fehlt, das nur live seinen vollen Kick entfalten kann: die Blastbeats und Hammergitarren des Metal, die Wildheit des Punk, die Offbeats des Ska, der hypnotische Sog des Reggae, die treibenden Wortkaskaden des HipHop, der bittersüße Wut-Schmerz des Gothic, die Ich-trage-Schulterpolster-Ja-und-Attitüde der NDW und der wütend vorgetragene Pessimismus des Grunge. All das funktioniert irgendwie auch aus der Konserve. Warum sonst hätte ich all diese Alben gekauft? Aber den wahren Kick gibt’s irgendwie nur live. Das scheint mir so ähnlich wie mit Heroin und Methadon. Bei guten Konzerten bekommt man den maximalen Kick, würde dieser Tage aber ein immenses Gesundheitsrisiko eingehen. Wohingegen Mukke aus der Konserve deutlich weniger riskant ist, wie Methadon – einem aber leider kaum einen Kick beschert. (cs)