Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Deutsche und Weltgeschichte im Stadthaus
Brandt, Breschnew, Beuys, Warhol: Charakterbilder und bewegte Szenen von Barbara Klemm
ULM - Große Liebesszenen – spielten sich früher auch auf der Weltbühne ab: Leonid Breschnew küsst Erich Honecker. Brüderlich und demonstrativ, versteht sich, für die Kameras.
Diesen Engkontakt zwischen den Machthabern von DDR und UdSSR, so wie er im Kalten Krieg Sitte war, haben Fotografen hundertfach abgeklickt, abgeblitzt, dann abgedruckt in Zeitungen und Magazinen – schließlich wurde der Kuss Motiv für ein legendäres Graffiti an der Berliner Mauer. Es war am Ende zwar nicht Barbara Klemms Foto, das so dreist gemalt ein Stück der „East Side Gallery“verziert. Aber Klemm hat diesen Moment kaum vier Schritt entfernt miterlebt und mit ihrem Blick durch die Kamera festgehalten.
Wie so viele Schlüsselsekunden deutsch-deutscher Geschichte. Für die FAZ fasste Klemm über Jahrzehnte die Befindlichkeiten der Politik und die Menschlichkeiten dieser Welt in Fotos. Bis 16. Mai ist die Ausstellung „Zeiten Bilder“mit ihren Werken im Ulmer Stadthaus zu sehen. Bruderkuss inklusive.
Klemm fasst ihre Idee von Fotografie in einen Satz, der unbestechlich wirkt wie ihre Bilder: „Schwarzweiß ist Farbe genug.“Alles begann für sie mit analogem Film, farblos, mit 36 Schuss für ein, zwei gute Motive, die dann die ganz großen Reportagen in der Frankfurter Allgemeinen schmückten. Sie aufwerteten. Auf ein neues Niveau hoben. Genau dieser Technik ist die Fotografin treu geblieben, schwarz-weiß fotografiert sie bis heute.
Geboren in Münster, 1939, groß geworden in Karlsruhe, wuchs Klemm ab den 60ern in eine Rolle hinein: Chronistin deutscher Geschichte. Immer dicht dran. „Als Frau war sie in diesen hohen politischen Sphären noch ziemlich exotisch“, erklärt Wiebke Ratzenburg, die diese Ausstellung vom Stadtmuseum Tübingen nach Ulm gebracht und kuratiert hat. Trotzdem sei Klemm gelungen, sich immer wieder unsichtbar zu machen. Für unverfälschte Sekundenaufnahmen, sei es im Tumult von Studentenprotesten oder in Seitenzimmern der Machtzentralen.
Ein Klemm-Foto zeigt einen DDR-Soldaten, der in der Berliner Mauer verschwindet. Ein Rücken und ein Bein lugen noch aus dem Eisernen Vorhang, eine Tür öffnet sich scheinbar als Schlupfloch in die Freiheit. In ein anderes System. Derweil auf der anderen Seite – der Ausstellung: Ehrhardt, Strauß, Kiesinger sitzen starr versammelt in einer Reihe der Unionsgenerationen, in feudaler Parteitagskulisse. Franz-Josef schmollt. Doch gleich gegenüber blicken – in der Schau ist das Foto so positioniert, als beäugten sie die Unionsmänner – Brandt, Wehner, Schmidt. Große SPD-Köpfe, nah betrachtet, im vergeistigten Pfeifenund Zigarettennebel.
Klemm sah sie kommen und gehen. Die Hände reckt er da noch in die Luft: Scheinwerfer strahlen um Gerhard Schröder bei seiner Wahl zum Kanzler 1998, Klemm zeigt eine Lichtgestalt für einen Abend, als die SPD längst nicht mehr „Willy“war. 2002, in seiner zweiten Wahlnacht, wird das Rennen für Schröder aber knapp, und Klemm fotografierte mitten in die wartende SPD-Riege hinein. Da hatte sie längst einen Namen, manch Großer wollten sich mit einem Klemm-Porträt in der FAZ schmücken. Aber sie ließ Ihnen kaum eine Pose durchgehen.
„Schwarz-Weiß zeigt sachliche Strukturen, so kommt Barbara Klemm der Essenz von Menschen und Orten nahe. Und so bekommt ein Bild von Anfang an etwas Dokumentarisches“, findet Ratzeburg. Sie hat die Fotos mit ausgewählt, sortiert – aber so, wie es sich Klemm gewünscht hat. Die Fotografin hat die Ausstellung neu für das Stadthaus zusammengewürfelt, jedes Bild hat seinen Platz. Ratzeburg erzählt: Klemm hat einen Sinn für den richtigen Kamerablickwinkel. Dann drückt sie ab. Nur wenig Klicks. Und auf das Entwickeln der Idee folgte das Entwickeln der Fotografien, selbst gemacht in der Dunkelkammer.
Zu Beginn ihrer Laufbahn herrschte ein anderes Tempo in der Zeitungsbranche, einen Tag lang konnte die Fotografin sich in Studentenprotesten auf Frankfurts Straßen tummeln, sich Zeit herausnehmen, für den perfekten Schuss. Dann, mit Autor und Redaktion, diskutierte sie, wie sich das Bild zum Text fügt.
Die Politik ist nur eine Seite in Klemms Studien. Eine Fotostrecke zeigt das Arbeitermilieu der alten Bundesrepublik, Gewerkschaftskumpel, Armutsrand – und im Gegenschuss DDR-Fabrik-Tristesse. Aber auch eine Vielfalt von Kulturen,
die schon lange Teil von Deutschland ist, macht sie sichtbar. Gastarbeiterleben. Immer wieder konnte Klemm zudem die Welt hinterm Eisernen Vorhang vor die Linse nehmen. Bleiern wirkt das mal, dann auch modern. Ein Kind an der „Hochschule für Körperkultur“in Leipzig baumelt beim Turnen an den Ringen, hoch über der Schnitzelgrube. Und die Qual des Drills steht ihm ins Gesicht geschrieben. Aber da gibt es auch den lachenden LiederRevoluzzer Wolf Biermann, der von der Bühne schreitet, der im Applaus strahlt und eine Hand ans Herz hält.
Unvergleichlich: Klemms Bildnis des Hans Filbinger, der CDU-ler strahlt hier wie ein Christkind, mit gefalteten Händen. Später stolperte er über seine NS-Vergangenheit. Aber wie war das, mit Filbinger, Kiesinger, Kohl? Ein Heft zur Ausstellung erklärt, was nicht nur die Generation Instagram vielleicht nicht mehr so genau weiß.
Von 1967 bis 2019 reichen die Bilder der Schau. Klemm beleuchtet Deutschland, die Welt bis in die Straßen New Yorks und schließlich: Kunst. Beuys und Warhol, aber auch ihren Vater, den Maler Fritz Klemm, lichtet sie ab, im Schatten, wie er aus dem Fenster blickt. Ist Klemm Journalistin? Dokumentarin? Künstlerin? Ratzeburg überlegt nicht lange: „Ich glaube, sie würde einfach sagen: Fotografin.“
Für den Ausstellungsbusch ist wegen der Corona-Regeln eine Anmeldung nötig, unter www.stadthaus.ulm.de